Sie sind vermutlich noch nicht im Forum angemeldet - Klicken Sie hier um sich kostenlos anzumelden  

ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



Sie können sich hier anmelden
Dieses Thema hat 397 Antworten
und wurde 31.290 mal aufgerufen
 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Seiten 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | ... 16
nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.001

06.02.2018 17:04
#76 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #74
Wenn man sich die Diversität der politischen Meinungen so anschaut, und zwar nicht nur heute, sondern von Beginn der parlamentarischen Demokratie an, dann sind vier bis fünf verschiedene Lager eigentlich das Minimum, mit kleineren Gruppen eher zehn bis fünfzehn.
Zu diesem Thema habe ich einmal einen erhellenden Aufsatz von Karl Popper im Spiegel gelesen. Zur Theorie der Demokratie

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.001

06.02.2018 17:10
#77 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Sehr erhellend finde ich vor allem diesen Abschnitt, betrachtet man die Große Koalition der letzten Jahre unter diesem Gedanken.

Zitat von Zur Theorie der Demokratie
Wer soll regieren? [...] diese Frage(n) (sind) ist falsch gestellt. Denn es kommt nicht darauf an, wer regiert, solange man die Regierung ohne Blutvergießen loswerden kann. Jede Regierung, die man wieder loswerden kann, hat einen starken Anreiz, sich so zu verhalten, daß man mit ihr zufrieden ist. Und dieser Anreiz fällt weg, wenn die Regierung weiß, daß man sie nicht so leicht loswerden kann.

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

06.02.2018 17:32
#78 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von Emulgator im Beitrag #75
Die meisten Länder haben auch keine so hohe Sperrklausel ("5%-Hürde") wie Deutschland bei der Bundestagswahl

Aber nein, sehr viele Länder haben eine Sperrklausel, und die deutschen 5% sind durchaus üblich.
Und je nach Wahlrecht gibt es in anderen Ländern noch ganz andere Hindernisse für die Etablierung einer neuen Partei.

Insgesamt sind die Zugangshürden für neue Parteien in Deutschland nicht übermäßig hoch, auch im internationalen Vergleich gesehen. Insbesondere haben wir die föderalen Strukturen - man kann mit einer neuen Partei erst einmal in Landtage kommen, das ist viel leichter als die Bundesebene, und damit hat man schon eine gute Ausgangsbasis für die weitere Expansion.

Zitat
Bei den Grünen der 80er und der Pauly-Gauland-AfD als einzigen Neuetablierungen von Parteien in der Bundespolitik ...


"Etablierung" ist aber etwas Anderes!
Wenn man genauer hinschaut, dann haben eine ganze Menge Parteien schon mal den Sprung in ein Parlament geschafft. Im Bundestag saßen neben Union, SPD und FDP schon fünf weitere Parteien mit über 5% (plus sechs weitere im ersten Bundestag noch ohne Sperrklausel). Die Vielfalt der Parteien die es schon einmal in Landtage geschafft haben ist noch deutlich größer.

Aber drinbleiben ist das Problem. Die meisten Parteien sind Eintagsfliegen geblieben - und das hat fast nichts mit der Sperrklausel zu tun.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

06.02.2018 17:36
#79 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #77

Zitat von Zur Theorie der Demokratie
Wer soll regieren? [...] diese Frage(n) (sind) ist falsch gestellt. Denn es kommt nicht darauf an, wer regiert, solange man die Regierung ohne Blutvergießen loswerden kann.


Diesen Ansatz fand ich schon immer unbefriedigend.
Natürlich ist es AUCH ein wesentlicher Grundsatz, daß eine friedliche Regierungsabwahl möglich ist. Aber das ist eben nur ein Aspekt. Eigentlich ein ziemlich technokratischer - als wäre eine Regierung ein Unternehmensvorstand, den man bei mangelnder Performance durch irgendwelche Fachleute ersetzen kann.

Parteien stehen aber für inhaltliche Positionen und verschiedene Wählerinteresssen. "Wer soll regieren" ist völlig richtig als Frage, die Wähler wollen bestimmte Lösungen und andere eben nicht.
Es ist schon unbefriedigend genug, daß solche inhaltlichen Fragen derzeit bei Wahlen zu wenig Gewicht haben. Sie aber mit Popper völlig zu ignorieren würde die Demokratie zur Farce machen.

Florian Offline



Beiträge: 3.170

06.02.2018 17:50
#80 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von Emulgator im Beitrag #75
Die 5%-Sperrklausel wurde ja eingeführt und vom BVerfG gebilligt, weil man meinte, es sei für die Arbeitsfähigkeit des Parlaments gut. Ich meine, damit hat man eher gezeigt, daß man nicht wirklich versteht, wie eine Demokratie funktionieren kann.


In der Theorie mag es besonders demokratisch sein, wenn es möglichst viele Parteien im Parlament gibt.

In der Praxis ist allerdings das Gegenteil der Fall.

Begründung:

Je mehr Fraktionen es im Parlament gibt, desto entscheidender sind Koalitionen für die Regierungsbildung.
Koalitionsgespräche unter einer Vielzahl an Parteien erodieren allerdings den Einfluss des Wählers auf die Regierung.

Im Extremfall eines 2-Parteien-Parlaments weiß der Wähler sehr genau, welche Regierung er befördert, wenn er einer Partei seine Stimme gibt.

Bei 3 Parteien (etwa die klassische Konstellation der jungen Bundesrepublik mit Union, SPD, FDP) ist es schon nicht mehr ganz so klar.
Aber auch da hat das noch meistens funktioniert. Ein FDP-Wähler in den 1970ern wusste, dass er mit seiner Stimme einen SPD-Kanzler beförderte.

Je mehr Parteien es gibt, desto unsicherer wird die Lage. Realistischerweise kann man von einer Partei nicht erwarten, dass sie vor einer Wahl verbindliche Koalitionsaussagen macht, wenn es im Parlament z.B. 10 Parteien gibt. Die möglichen Mehrheits-Varianten dann so unübersichtlich, dass entsprechende Vorab-Festlegungen kaum mehr sinnvoll möglich sind. ("Wir werden nie mit der AfD koalieren" kann man auch weiterhin sagen. Aber man kann sich nicht zu jeder Variante vorab festlegen. "Wir wären bereit in eine Koalition mit Parteien A und B einzutreten. Aber nur dann, wenn A den Kanzler stellt. Und wenn für die Mehrheit nicht zusätzlich auch noch Partei C nötig ist". Das ist dann einfach zu kompliziert).

Wenn man dann im Extremfall 10 Parteien mit jeweils 6-15% hat, von denen man mindestens 5 für eine Koaliton zusammenbekommen muss, dann wird über eine Regierungskonstellation faktisch nicht mehr an der Wahlurne entschieden - sondern nur noch in Hinterzimmern. Irgendwelche Partei-Apparatschiks kungeln dann (NACH der Wahl, notabene) aus, wer Kanzler wird.
Der Wähler von Partei X kann dann nicht mehr wissen, ob er Kanzlerkandidat Y mit seiner Stimme befördert oder ablehnt.
Ich empfinde diesen Extremfall eindeutig NICHT als einen Gewinn für die Demokratie.

Dennis the Menace Offline




Beiträge: 459

07.02.2018 00:46
#81 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #74
Und "Weimar" wäre dann nicht Menetekel, sondern schlichte Rückkehr zur Normalität. Es ist ja auch nicht automatisch so, daß "Weimar" zwingend in die Diktatur führt, die meisten Länder leben gut und langfristig mit einer vielgestaltigeren Parteienlandschaft.


Na ja, wenn man alle passenden Länder mal durchdekliniert, kommt man zu unterschiedlichen Ergebnissen. GB und USA sind außen vor, weil Zweiersystem wegen Mehrheitswahlrecht, zuzüglich Präsident in USA. In Frankreich ging das nicht gut, deswegen hat De Gaulle 1958 die Faxen beendet und das Parlament in die zweite Reihe gesetzt, den Präsidenten in die erste. Das gilt heute noch. Skandinavien: Hohe Konsenskultur, weswegen u.a. Minderheitsregierungen keine Sensation sind und akzeptiert werden. Südeuropa: Das Chaos ist der Normalfall und stört eh niemanden, is aber nicht unbedingt wohlstandsfördernd. Ehemaliger Ostblock: Pluralismus scheint momentan nicht gerade hoch beliebt zu sein, starke Neigung zu eher autoritären Ideen.

Wie man in D mit der neuen Lage zurecht kommt, muss sich noch zeigen. Merkels komische "strukturelle Mehrheit", die mit Hilfe der AfD produziert wird, scheint momentan zu klappen - noch. Nach der Verfassung ist es ja auch möglich, dass die geschäftsführende Bundesregierung bis in alle Ewigkeit im Amt bleibt

Zitat von GG Art. 69 (3)
Auf Ersuchen des Bundespräsidenten ist der Bundeskanzler, auf Ersuchen des Bundeskanzlers oder des Bundespräsidenten ein Bundesminister verpflichtet, die Geschäfte bis zur Ernennung seines Nachfolgers weiterzuführen.



Man beachte VERPFLICHTET. Indessen ist der Bundestag nicht verpflichtet, sich überhaupt zur Kanzlerwahl aufzuraffen, darüber schweigt sich das GG aus.

Alles Neuland.

lich
Dennis

Carlo M Dimhofen Offline



Beiträge: 186

07.02.2018 08:30
#82 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #81

Wie man in D mit der neuen Lage zurecht kommt, muss sich noch zeigen. Merkels komische "strukturelle Mehrheit", die mit Hilfe der AfD produziert wird, scheint momentan zu klappen - noch. Nach der Verfassung ist es ja auch möglich, dass die geschäftsführende Bundesregierung bis in alle Ewigkeit im Amt bleibt

Zitat von GG Art. 69 (3)
Auf Ersuchen des Bundespräsidenten ist der Bundeskanzler, auf Ersuchen des Bundeskanzlers oder des Bundespräsidenten ein Bundesminister verpflichtet, die Geschäfte bis zur Ernennung seines Nachfolgers weiterzuführen.



Man beachte VERPFLICHTET. Indessen ist der Bundestag nicht verpflichtet, sich überhaupt zur Kanzlerwahl aufzuraffen, darüber schweigt sich das GG aus.

Alles Neuland.

lich
Dennis





Bis in alle Ewigkeit wohl kaum - das hatte ich auch mal gedacht, zumal der Ball momentan beim Bundespräsidenten liegt, und ich befürchet hatte, Steinmeier könnte nun ganz einfach Beamten-Mikado spielen. Dies ist aber laut diesem Kommentar zum Artikel 63 GG nicht der Fall:

https://www.new-media-law.net/jamaika-ge...eskanzlers-vor/

Zitat

Der Bundespräsident ist nach herrschender Lehre rechtlich verpflichtet dem Bundestag einen Vorschlag zu machen (vgl. Herzog, a.a.O., Art. 63, Rz. 16, m.w.N.). Insofern könnte in nicht allzu ferner Zeit tatsächlich schon in der Ausübung des Vorschlagsrechts und eben aber auch der Vorschlagspflicht eine wichtige politische Entscheidung des Bundespräsidenten liegen. Im Normalfall wäre der Bundespräsident hierbei an das Ergebnis einer erfolgreichen Koalitionsverhandlung rechtlich wohl gebunden. Herzog weist aber auch darauf hin, dass der Bundespräsident auch das Recht hat, unnötig lange Koalitionsverhandlungen dadurch „abzuwürgen“, dass er damit droht, im Falle einer Nichteinigung auf einen geeigneten Kandidaten dann eben selber einen vorzuschlagen (vgl. Herzog, a.a.O., Art. 63, Rz. 17). Bleibt der Bundespräsident untätig, so verletzt er seine verfassungsrechtlichen Pflichten und könnte sich nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG eine Organklage einhandeln. Daraus kann man ersehen: Der Bundespräsident Frank Walter Steinmeier muss in absehbarer Zeit handeln.



Es bleibt also auf jeden Fall spannend...

Beste Grüße,

C.M.D.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

07.02.2018 09:08
#83 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von Florian im Beitrag #80
In der Theorie mag es besonders demokratisch sein, wenn es möglichst viele Parteien im Parlament gibt.

In der Praxis ist allerdings das Gegenteil der Fall.

Ich behaupte mal: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Parteienanzahl und demokratischer Qualität der Wahl.

Alle von Ihnen beschriebenen Vorgänge sind richtig. Je mehr Parteien es gibt, desto mehr dominieren Koalitionsverhandlungen und desto unklarer wird die Bildung einer Regierungsmehrheit.
Das ist aber nur für einen Teil der Entscheidungen relevant, insbesondere für die Kanzlerwahl.

Aber die Kanzlermehrheit ist nicht unbedingt der wichtigste Aspekt für viele Wähler. Mindestens so wichtig sind Inhalte. Völlig normal und legitim ist die Überlegung: "Solange ich meine Agrarsubvention, meine Steuerkürzung, meine Cannabis-Legalisierung oder was auch immer kriege, ist mir völlig egal, wer als Kanzler amtiert".

Und kleine Parteien sind natürlich viel besser geeignet, solche konkreten Wünsche zu transportieren. Wenn die auf Thema X fokussieren und entsprechenden Wählerrückhalt finden, dann gehen sie halt in genau die Koalition, in der ihnen X am besten zugestanden wird.
Umgekehrt gibt es auch in großen Parteien "Koalitionsverhandlungen", nämlich zwischen den Flügeln und Interessengruppen. Was eine große Volkspartei am Ende als Regierungspartei macht, das wird auch oft in Hinterzimmern ausgekungelt, meist viel intransparenter als in Koalitionsverhandlungen und oft aus dem Programm gar nicht erkennbar.

Ob große Parteien, ob kleine Parteien, ob viele oder wenige - das hat m. E. recht wenig damit zu tun, ob der demokratische Prozeß gut funktioniert und zu für die Wähler befriedigenden Ergebnissen führt.

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.001

07.02.2018 12:08
#84 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #83
Ob große Parteien, ob kleine Parteien, ob viele oder wenige - das hat m. E. recht wenig damit zu tun, ob der demokratische Prozeß gut funktioniert und zu für die Wähler befriedigenden Ergebnissen führt.
Ganz im Sinne des Popperschen Aufsatzes würde ich den Grad der Funktionsfähigkeit einer Demokratie daran festmachen, wie leicht man eine Regierung wieder los werden kann, weil genau dieser Umstand die Anreize für die Regierung setzt, sich im Sinne des Bürgers zu verhalten.

In diesem Hinblick kann man auch ein Demokratiedefizit in den letzten Jahren der Großen Koalitions Regierung konstatieren, da es faktisch keine Möglichkeit gibt, diese Regierung los zu werden. Oder anders herum ausgedrückt: Die Etablierung der GroKo als einzig mögliche Regierung produziert die in den letzten Jahren beobachtbaren "Gährungsprozesse" in der Gesellschaft aufgrund eines Demokratiedefizites (einer mangelnden Möglichkeit, die Regierung los zu werden).

Wenn ich Popper richtig verstehe, präferiert er ja genau deswegen ein zwei Parteien System.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

07.02.2018 13:09
#85 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #84
... da es faktisch keine Möglichkeit gibt, diese Regierung los zu werden.

Selbstverständlich gibt es die. Rechnerisch wäre schon im letzten Bundestag eine RRG-Regierung als Alternative drin gewesen, und die hätte der Wähler durch entsprechende Stärkung von "Linken" und Grünen auch durchbringen können. Wollte er aber nicht.
Ganz generell ist es halt so, daß es keine Wählermehrheit für eine Regierung ohne Merkel gibt (bzw. letzten Oktober gab). Es ist kein Demokratie-Defizit, wenn uns das nicht gefällt.

Zitat
Wenn ich Popper richtig verstehe, präferiert er ja genau deswegen ein zwei Parteien System.


Und genau deswegen lehne ich Poppers technokratischen Ansatz ab. Es wäre nicht besser, wenn man nur die Wahl zwischen zwei inhaltlich nicht unterscheidbaren Pappnasen-Sammlungen hätte, ohne die Möglichkeit neue Alternativen aufzutun.
Die Diskussion begannt hier mit der (aus meiner Sicht unberechtigten) Klage, es wäre zu schwer in Deutschland eine neue Partei zu etablieren. Nach Popper wäre so eine Möglichkeit gar nicht mehr gegeben.

Im übrigen sehe ich auch bei den praktischen Erfahrungen mit Zwei-Parteien-Systemen wenig Anlaß, die zu präferieren.

Florian Offline



Beiträge: 3.170

07.02.2018 13:15
#86 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Nun scheint die neue Bundesregierung ja Gestalt anzunehmen.
Und ganz unabhängig vom Koalitionsvertrag (den ich noch nicht gesichtet habe) bin ich überrascht über die Ministeriumsverteilung:

(Quelle: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2...ergebnisse-live)

im wesentlichen bleibt wohl alles beim Alten.

Mit diesen Änderungen:
Wirtschaft: bisher SPD, neu CDU
Finanzen: bisher CDU, neu SPD
Landwirtschaft: bisher CSU, neu CDU
Innen: bisher CDU, neu CSU
Zuständigkeit Bau: bisher Teil des Umweltministeriums (SPD), neu seltsamerweise im Innenministerium (CSU)

Was mich hier überrascht ist, dass per Saldo die SPD massiv an Macht gewinnt (durch den Tausch von faktisch machtlosen Wirtschafts- und allmächtigen Finanzministerium).
Was ja eigentlich das Wahlergebnis nicht hergegeben hätte.

=================
Edit: im nachfolgenden korrigiere ich meinen früher erstellten Beitrag in einem Punkt.
=================

Die CSU hat zusätzlich das Innenministerium bekommen.
Plus die Zuständigkeit für Bau und für das aufgewertete Thema "Ditigales".
Die CSU kann also sehr zufrieden sein, weil ja gerade das Innenministerium für sie ein ganz wichtiger Hebel ist um die Flüchtlingspolitik in ihrem Sinne zu steuern.

Großer Verlierer ist demnach also die CDU. Sie verliert mit Finanzen und Innen gleich zwei wichtige Schlüsselministerien.
Und bekommt dafür die zwei Leichtgewichtministerien Wirtschaft (ohne Zuständigkeit für "Digitales"!) und Landwirtschaft.

Von den vier bedeutendsten Kern-Ministerien (Innen, Außen, Finanzen, Arbeit&Soziales) ist damit nun kein einziges mehr bei der größten Regierungspartei CDU...

Dennis the Menace Offline




Beiträge: 459

07.02.2018 14:13
#87 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #84

Wenn ich Popper richtig verstehe, präferiert er ja genau deswegen ein zwei Parteien System.


Ja, verstehe ich auch so, er äußert sich da recht eindeutig. In D ist diese Idee seit 50 Jahren tot, bis dahin aber durchaus lebendig gewesen, insbesondere bei der CDU. die SPD machte bei dem Projekt FDP-ermorden (darum ging es damals eigentlich) letztlich den Rückzieher, deswegen haben wir das nicht.

Es spricht zweifellos einiges für Poppers Argumente, beim Klassiker (in dieser Sache) GB hat man klare Kante insofern, als eine Koalition von Tories und Labour völlig ausgeschlossen ist (der Sonderfall 2. Weltkrieg, als es das tatsächlich gab, mal weggelassen). Allerdings verlagert sich dann die Feinarbeit IN die beiden Parteien mit gerne zerstrittenen Flügeln, so dass der geneigte Wähler auch in diesem Fall eine Art Koalition wählt, ohne zu wissen, welcher Flügel bei den allfälligen Kabalen ggf. die Oberhand gewinnt. Er kann beispielsweise zwischen 'n bissle rot und knallrot nicht steuern, weil sich in dieser Klasse nur Labour als undifferenziertes Gesamtpaket anbietet.

Das hat alles so sein Für und Wider, die eierlegende Wollmilchsau ist wohl nicht zu haben . Am besten, man erwartet von denen da oben gar nicht so viel, sondern man hat nicht unwesentlich die Gelegenheit, selbst zu kochen und zu backen und nimmt die auch wahr. Solche eher liberalen Lösungen sind indessen draußen im Lande nicht unbedingt beliebt .

lich
Dennis

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

07.02.2018 16:21
#88 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von Florian im Beitrag #86
im wesentlichen bleibt wohl alles beim Alten.

Nicht ganz.
Die werten Koalitionspartner gönnen sich nach der massiven Wahlklatsche einen Bonus in Form von zwei zusätzlichen Ministerien.
Was ich unabhängig von der Feinverteilung für einen ziemlichen Skandal halte.

Zitat
Was mich hier überrascht ist, dass per Saldo die SPD massiv an Macht gewinnt


Das ist wohl das Zugeständnis, um die Mehrheit bei der SPD-Basis zu bekommen. Was aber eigentlich kein Ausgleich dafür ist, daß sich inhaltlich nicht viel getan hat.

Zitat
Die CSU kann also sehr zufrieden sein ...


Auch hier gilt: Personelle Erfolge sollen inhaltliche Mißerfolge verdecken. Denn die CSU hat (wieder einmal) ihre zentrale Forderung "Obergrenze" nicht durchbekommen. Das wird sehr spannend werden bei der Landtagswahl, und da wird ein Job mehr in Berlin nicht helfen.

Zitat
Großer Verlierer ist demnach also die CDU.


Ja. Sie hat ihr zentrales Ziel "Merkel muß ihren Job erhalten" erreicht und dafür heftig Opfer gebracht. Ich bin mal gespannt, wie leidensfähig die Basis dort noch ist.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

07.02.2018 16:27
#89 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #88
Die werten Koalitionspartner gönnen sich nach der massiven Wahlklatsche einen Bonus in Form von zwei zusätzlichen Ministerien.

Ups, das muß ich zurücknehmen. Ich hatte übersehen, daß derzeit wg. geschäftsführender Regierung zwei Ressorts von anderen Ministern mitverwaltet werden. Insgesamt hat sich im Kabinett nicht viel geändert.

Frankenstein Offline




Beiträge: 891

07.02.2018 18:06
#90 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #87
Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #84

Wenn ich Popper richtig verstehe, präferiert er ja genau deswegen ein zwei Parteien System.


Ja, verstehe ich auch so, er äußert sich da recht eindeutig. In D ist diese Idee seit 50 Jahren tot, bis dahin aber durchaus lebendig gewesen, insbesondere bei der CDU. die SPD machte bei dem Projekt FDP-ermorden (darum ging es damals eigentlich) letztlich den Rückzieher, deswegen haben wir das nicht.

Es spricht zweifellos einiges für Poppers Argumente, beim Klassiker (in dieser Sache) GB hat man klare Kante insofern, als eine Koalition von Tories und Labour völlig ausgeschlossen ist (der Sonderfall 2. Weltkrieg, als es das tatsächlich gab, mal weggelassen). Allerdings verlagert sich dann die Feinarbeit IN die beiden Parteien mit gerne zerstrittenen Flügeln, so dass der geneigte Wähler auch in diesem Fall eine Art Koalition wählt, ohne zu wissen, welcher Flügel bei den allfälligen Kabalen ggf. die Oberhand gewinnt. Er kann beispielsweise zwischen 'n bissle rot und knallrot nicht steuern, weil sich in dieser Klasse nur Labour als undifferenziertes Gesamtpaket anbietet.

Das hat alles so sein Für und Wider, die eierlegende Wollmilchsau ist wohl nicht zu haben . Am besten, man erwartet von denen da oben gar nicht so viel, sondern man hat nicht unwesentlich die Gelegenheit, selbst zu kochen und zu backen und nimmt die auch wahr. Solche eher liberalen Lösungen sind indessen draußen im Lande nicht unbedingt beliebt .

Ich erinnere mich an Zettels Beitrag "Amerika, Du hast es besser", wo er seinerzeit die Vorzüge der angelsächsischen Wahlsysteme herausarbeitete. Mich hat er damit überzeugt - in den USA ist es m. E. beispielsweise für Apparatschiks und Parteisoldaten ungleich schwerer als in Deutschland, in hohe Ämter zu gelangen - wer sich dort hingegen beruflich - sei es in der Privatwirtschaft oder in öffentlich Ämtern - bewährt hat, ist in der Regel klar favorisiert nominiert und gewählt zu werden (Ausnahmen bestätigen die Regel).

Florian Offline



Beiträge: 3.170

07.02.2018 19:19
#91 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Nicht ganz so krass ist die Machtverschiebung im Kabinett, wenn man als Vergleichsmaßstab nicht die amtierende Koalition nimmt.
Sondern Merkel I (Koalition 2005-2009).

Damals hatte die SPD nämlich auch schon die 3 Schlüsselministerien Außen, Finanzen und Arbeit.

Im Vergleich zu 2005 gewinnt die SPD Familie und Umwelt. Und verliert Wirtschaftl.Zusammenarbeit und Gesundheit.
Also jeweils plus und minus je ein mittelstarkes (Umwelt und Gesundheit) und ein unbedeutendes (Familie und Wirtschaftl. Zusammenarbeit) Ministerium.

Gegenüber 2005 ist v.a. die CSU der Gewinner.
Plus drei Ministerien: (aufgewertes) Innenministerium, (aufgewertetes) Verkehrsministerium und wirtschaftl. Zusammenarbeit.
Minus zwei Ministerien: Wirtschaft und Landwirtschaft.

Und die CDU entsprechend der Verlierer.

Wobei man natürlich sehen muss, dass 2005 Union und SPD stimmenmäßig fast auf Augenhöhe waren.
Und die SPD - zumindest rechnerisch - einige andere Koalitionsmöglichkeiten gehabt hätte.
Letztlich hat sich also der Bedeutungsverlust der SPD an der Wahlurne Null komma Null in Kabinettsposten ausgedrückt.

Nun ja, wir werden ja merken, was daraus wird.

Ein Finanzminister Scholz ist womöglich keine totale Katastrophe. Der Mann macht mir eigentlich einen recht vernünftigen Eindruck.
Schlimmer ist Schulz als Außenminister. Unser Verhältnis zu Osteuropa, Israel, USA, Großbritannien wird durch dessen Rüpeleien sicher nicht besser.

Und angesichts der SPD-Vorstellungen einer europaweiten Haftungs- und Transfer-Union könnte es noch fatal werden, dass Außen- und Finanzministerium bei dieser Partei liegen...

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.390

07.02.2018 21:40
#92 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Die Mitgliederbefragung kann stattfinden. Erster Zeithorizont.

Zitat
Das geplante sozialdemokratische Mitgliedervotum kann nun wie geplant stattfinden. Alle vorliegenden Beschwerden wurden laut Gericht abgewiesen. Ein Abstimmungsergebnis über den Parteispitzen von Union und SPD ausgehandelten Vertrag soll in drei bis vier Wochen vorliegen. Denkbar wäre, dass am ersten Märzwochenende ausgezählt und ein Ergebnis bekannt gegeben wird.



http://www.spiegel.de/politik/deutschlan...-a-1192308.html

Daß Scholz neben Finanzminister auch noch als Kanzlervize gehandelt wird, ist nett. Sein einziges Verdienst ist, Hamburgs Finanzen rettungslos an die Wand gefahren zu haben (aktueller Stand 31 Mrd. Miese); die Infrastrukturmaßnahmen hoffnungslos ins Nirwana verknäult zu haben und den Saalschutz bei G20 komplett vergeigt zu haben. Paßt wie X auf Y.



"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire

Frankenstein Offline




Beiträge: 891

07.02.2018 23:45
#93 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #92
Die Mitgliederbefragung kann stattfinden. Erster Zeithorizont.

Zitat
Das geplante sozialdemokratische Mitgliedervotum kann nun wie geplant stattfinden. Alle vorliegenden Beschwerden wurden laut Gericht abgewiesen. Ein Abstimmungsergebnis über den Parteispitzen von Union und SPD ausgehandelten Vertrag soll in drei bis vier Wochen vorliegen. Denkbar wäre, dass am ersten Märzwochenende ausgezählt und ein Ergebnis bekannt gegeben wird.


http://www.spiegel.de/politik/deutschlan...-a-1192308.html

Daß Scholz neben Finanzminister auch noch als Kanzlervize gehandelt wird, ist nett. Sein einziges Verdienst ist, Hamburgs Finanzen rettungslos an die Wand gefahren zu haben (aktueller Stand 31 Mrd. Miese); die Infrastrukturmaßnahmen hoffnungslos ins Nirwana verknäult zu haben und den Saalschutz bei G20 komplett vergeigt zu haben. Paßt wie X auf Y.



Also hier bin ich nicht bei Ihnen. Scholz hat im Endstadium von Ortwin Rundes Totalversagen in der Sicherheitspolitik als Feuerwehrmann versucht, das Ruder noch rumzureissen und ist in der linksradikalen Szene bis heute verhasst dafür, Recht und Ordnung durchaus Bedeutung beizumessen ("Ich bin liberal aber nicht doof"). Ferner hat er die von Beust verschuldete Milliardenblutung bei der Elbphilharmonie durch clevere Verträge gestoppt und sich - leider erfolglos - für die Privatisierung des Stromnetzes engagiert.

Ich bin nicht naiv - umsonst hat er den Grünen nicht den Vorzug vor der FDP gegeben. Aber trotz der G20-Katastrophe scheint er mir einer der ganz wenigen halbwegs vernünftigen SPD-Politiker zu sein, die über eine gewisse Integrität und Realitätssinn verfügen. Nahles bedeutet natürlich Sturzflug nach unten, aber Scholz würde ich als Kandidat prinzipiell durchaus einen Sieg über die mittlerweile offensichtlich vollkommen desolate Union zutrauen.

Mir ist jedenfalls kein SPD-Politiker bekannt, den ich lieber im Amt des Finanzministers sehen würde und der zudem realistische Chancen auf dieses Amt hätte. Auch wenn es natürlich besser wäre, wenn kein Sozi jemals auch nur in die Nähe dieses Amtes gelassen werden würde.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.390

08.02.2018 01:08
#94 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Oh-oh. https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Die-...rin-362899.html

Zitat von Tagblatt, 07.02.2018
Annette Widmann-Mauz wird wohl Gesundheitsministerin
Tübinger CDU-Bundestagsabgeordnete soll ihren Chef Hermann Gröhe beerben
Die CDU-Bundestagsabgeordnete Annette Widmann-Mauz soll nach Informationen des SCHWÄBISCHEN TAGBLATTS Bundesgesundheitsministerin in der Großen Koalition werden. Darauf sollen sich CDU und SPD geeinigt haben.



https://de.wikipedia.org/wiki/Annette_Widmann-Mauz

Zitat von Wikipedia - ja, ich weiß: aber das ist Außendarstellung
Nach dem Abitur am Gymnasium Balingen studierte Annette Widmann-Mauz acht Jahre lang Politik- und Rechtswissenschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen, machte aber keinen Abschluss.[1] Von 1993 bis 1998 war sie studentische Mitarbeiterin am Projekt European Studies Program (ESP) der Universität Tübingen.

Seit 1995 ist sie Landesvorsitzende der Frauen Union in Baden-Württemberg und seit 1999 auch stellvertretende Vorsitzende des CDU-Bundesfachausschusses Frauenpolitik.

Die Politikerin war Schirmherrin des Weltärztekongresses Homöopathie 2017 und beantwortete eine kritische Anfrage des Informationsnetzwerks Homöopathie zu ihrer Schirmherrschaft für diese Veranstaltung mit dem Verweis auf den Stellenwert des „wissenschaftlichen Diskurs[es] in der Gesundheitsversorgung“.



"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.001

08.02.2018 10:00
#95 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #85
Selbstverständlich gibt es die. Rechnerisch wäre schon im letzten Bundestag eine RRG-Regierung als Alternative drin gewesen, und die hätte der Wähler durch entsprechende Stärkung von "Linken" und Grünen auch durchbringen können. Wollte er aber nicht.
Ich glaube nicht, dass man hier so strikt argumentieren kann. Ich habe ja auch nicht behauptet, dass wir keine Demokratie haben, sondern ein aktuelles Demokratie Defizit.

Auch ist dieser Punkt nicht dem System, sondern vor allem den Wählern anzulasten, deren Elastizität im Stimmverhalten in Deutschland recht gering ist. Von daher gibt/gab es einen "Bodensatz" an strukturellen Stimmanteilen, der die letzten Jahre ein Abwählen der GroKo extrem unwahrscheinlich machte. So konnte diese Regierung tun was sie wollte, ohne befürchten zu müssen abgewählt zu werden.

Dieser Zustand ändert sich nun langsam, obwohl er zunächst durch die AfD noch mehr zementiert zu werden schien, da der Mißmut über die aktuelle Regierung so groß wird, dass er immer mehr "strukturelle Dauerwähler" verprellt.

Wohlgemerkt, mein Einwurf war keine Systemkritik, sondern ein Befund. Die aktuelle Wahlarithmetik und Parteienkonstellation machten eine Abwahl der Regierung extrem unwahrscheinlich. Auch hier im ZkZ wurde ja vor der Wahl fest mit Merkel als Kanzlerin gerechnet. Und in einer solchen Situation kann eine Regierung dann agieren wie sie möchte, was in der Folge in ein faktisches, "alternativloses Demokratiedefizit" führt. Dieses entwickelt sich gerade zurück und wird spätestens dann schwinden, wenn es Regierungsoptionen an der CDU vorbei gibt.


Zitat von R.A. im Beitrag #85
Und genau deswegen lehne ich Poppers technokratischen Ansatz ab. Es wäre nicht besser, wenn man nur die Wahl zwischen zwei inhaltlich nicht unterscheidbaren Pappnasen-Sammlungen hätte, ohne die Möglichkeit neue Alternativen aufzutun.
Ich halte Poppers Ansatz weder für technokratisch, noch glaube ich, dass ein solches System ununterscheidbare Pappnasen hervorbrächte. Die ununterscheidbaren Pappnasen bringt meines Ermessens die aktuelle Situation in Deutschland, die ich mit dem Befund „Demokratiedefizit“ attribuierte, hervor. Wenn man keine Möglichkeit hat zu regieren in dem man sich anpasst und koaliert, sondern dazu Alternativen aufzeigen muß, werden die Pappnasen zwangsläufig unterscheidbar. Ein Blick in die USA genügt. Man kann über Clinton und Trump denken was man mag, unterscheidbar sind sie wohl. Und ich bin mir sicher, dass sich auch zukünftig die Kanditaten der Demokraten von Clinton unterschienden werden, nach dieser Wahlerfahrung. Attraktive Alternativen bieten zu müssen wirkt.

Das Ganze funktioniert natürlich (grundsätzlich) auch in einem System wie dem deutschen Vielparteien Parlamentarismus. Aber wie wir aktuell sehen, kann das in ein parlamentarisches Patt münden, welches zu einem Demokratiedefizit führt, das unter einigen Schmerzen und Aufwand wieder abgebaut werden muß. Ein zwei Parteien System scheint mir solche Situationen dagegen "stabiler zu verhindern".

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

08.02.2018 11:11
#96 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von Frankenstein im Beitrag #90
... wo er seinerzeit die Vorzüge der angelsächsischen Wahlsysteme herausarbeitete.

Von einem "angelsächsichen Wahlsystem" kann man eigentlich überhaupt nicht sprechen.
Gemeinsam haben sie im wesentlichen nur die Abwesenheiten von Parteilisten, aber in konkreten Ausgestaltung gibt es große Unterschiede.

In den USA sind die Parteien letztlich nur lockere Bündnisse mit wenig inhaltlicher Basis. Über die Vorwahlen können auch Außenseiter einsteigen (siehe Trump), das Parlament wird durch "checks and balances" der Exekutive gegenübergestellt und viele Fragen direkt durch Volksentscheide geklärt.
Das gibt eine Menge Vorteile gegenüber dem deutschen System (und auf die hatte Zettel abgehoben), aber die haben fast nichts mit dem Wahlsystem im engeren Sinn zu tun. Und es gibt auch heftige Nachteile, nicht umsonst ist der Ärger über Washington in weiten Teilen der USA mehrheitsfähig.

GB funktioniert politisch völlig anders. Bis auf die Einerwahlkreise mit Mehrheitswahlrecht gibt es eigentlich keine Gemeinsamkeiten mit den USA. Es gibt sehr viele Parteien im Parlament, die politischen Unterschiede sind groß, die Macht der Parteiführungen auf die Zusammensetzung des Parlaments meist größer als auf dem Kontinent. Das UK ist eine "gewählte Diktatur" mit eher wenig Kontrollrechten des Parlaments und das politische System insgesamt ist dem in Deutschland bestimmt nicht vorzuziehen.

Und dann hätten wir weitere Staaten wie z. B. Irland, das das m. E. beste Wahlsystem der Welt hat - eine Personenwahl in großen Wahlkreisen mit jeweils mehreren Abgeordneten. Das gibt den einzelnen Kandidaten eine relativ starke Stellung und führt trotzdem zu einer halbwegs ordentlichen Proportionalität im Gesamtergebnis. Nur ist dort die Parteienlandschaft ziemlich vermurkst, es spielen weniger inhaltliche Positionen eine Rolle als uralte Rivalitäten aus dem Bürgerkrieg und ausgeprägte Vetternwirtschaft. Im Ergebnis bleibt die irische Politik daher deutlich unter den Möglichkeiten des Wahlsystems.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.390

08.02.2018 12:18
#97 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #94
Oh-oh.


Zitat von Der Spiegel, 18.08.2008
Mit Widmann-Mauz brachen sechs weitere Mitglieder des Gesundheitsausschusses nach Amerika auf. Die Tour scheint ein "Besuch der besonderen Art" gewesen zu sein, wie Rolf Schütte, der Generalkonsul in San Francisco, gleich nach Abreise der Gäste in einem vertraulichen Brandbrief ans Auswärtige Amt schrieb. Die Depesche wurde jetzt dem SPIEGEL bekannt; sie ist ein seltenes Dokument maßloser Ansprüche und derben Verhaltens deutscher Abgeordneter im Ausland.

Auch die Reisenden glühen noch Monate später vor Zorn, fast alle fühlen sich schlecht behandelt: "Es war nicht der Standard, den wir gewohnt sind", sagt Widmann-Mauz. Deutlicher wird Randolph Krüger, Sekretär des Ausschusses: "Die Leute vom Konsulat sind wohl gewohnt, betrunkene Touristen aus einer Gefängniszelle zu holen, wissen aber nicht, welchen Service sie für Bundestagsabgeordnete zu leisten haben."
...
Sekretär Krüger schwört, er habe sechs Tage vor der Ankunft per E-Mail einen Rollstuhl für Widmann-Mauz angefordert, wegen des gebrochenen Fußes. Vielleicht ist die Nachricht ja verschüttgegangen, jedenfalls schrieb der Generalkonsul, man sei erst nach Ankunft der Gruppe informiert worden und habe binnen weniger Stunden das Gefährt besorgt. Das Vehikel empörte die Abgeordneten nachhaltig: "Es war ein Krankenstuhl mit kleinen Rädern, wie aus alten US-Filmen", sagt Widmann-Mauz. Allein konnte sie ihn nicht bewegen.

Sozialdemokrat Krüger, Potsdam-West ist sein Ortsverein, sann auf Abhilfe. Vor der Stadtführung fuhr er den Generalkonsul nach dessen Erinnerung an: "Wir brauchen einen N***r, der den Rollstuhl schiebt." Heute, so Krüger zum SPIEGEL, mag er "nicht ausschließen, dass ich das gesagt habe. Wenn die so ein famoses Gerät angeschleppt hatten, dann sollten sie wenigstens mit anfassen".



http://www.spiegel.de/spiegel/a-572742.html

Dienstwagenregelung. Verbot von Verbrennungsmotoren. Fachkräfteimport. Allmählich ergibt das ein rundum stimmiges Bild.



"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire

Frankenstein Offline




Beiträge: 891

08.02.2018 14:41
#98 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #96
Zitat von Frankenstein im Beitrag #90
... wo er seinerzeit die Vorzüge der angelsächsischen Wahlsysteme herausarbeitete.

Von einem "angelsächsichen Wahlsystem" kann man eigentlich überhaupt nicht sprechen.
Gemeinsam haben sie im wesentlichen nur die Abwesenheiten von Parteilisten, aber in konkreten Ausgestaltung gibt es große Unterschiede.

In den USA sind die Parteien letztlich nur lockere Bündnisse mit wenig inhaltlicher Basis. Über die Vorwahlen können auch Außenseiter einsteigen (siehe Trump), das Parlament wird durch "checks and balances" der Exekutive gegenübergestellt und viele Fragen direkt durch Volksentscheide geklärt.
Das gibt eine Menge Vorteile gegenüber dem deutschen System (und auf die hatte Zettel abgehoben), aber die haben fast nichts mit dem Wahlsystem im engeren Sinn zu tun. Und es gibt auch heftige Nachteile, nicht umsonst ist der Ärger über Washington in weiten Teilen der USA mehrheitsfähig.

GB funktioniert politisch völlig anders. Bis auf die Einerwahlkreise mit Mehrheitswahlrecht gibt es eigentlich keine Gemeinsamkeiten mit den USA. Es gibt sehr viele Parteien im Parlament, die politischen Unterschiede sind groß, die Macht der Parteiführungen auf die Zusammensetzung des Parlaments meist größer als auf dem Kontinent. Das UK ist eine "gewählte Diktatur" mit eher wenig Kontrollrechten des Parlaments und das politische System insgesamt ist dem in Deutschland bestimmt nicht vorzuziehen.

Und dann hätten wir weitere Staaten wie z. B. Irland, das das m. E. beste Wahlsystem der Welt hat - eine Personenwahl in großen Wahlkreisen mit jeweils mehreren Abgeordneten. Das gibt den einzelnen Kandidaten eine relativ starke Stellung und führt trotzdem zu einer halbwegs ordentlichen Proportionalität im Gesamtergebnis. Nur ist dort die Parteienlandschaft ziemlich vermurkst, es spielen weniger inhaltliche Positionen eine Rolle als uralte Rivalitäten aus dem Bürgerkrieg und ausgeprägte Vetternwirtschaft. Im Ergebnis bleibt die irische Politik daher deutlich unter den Möglichkeiten des Wahlsystems.


Hier der Link zu Zettels damaligen Beitrag:

Zettels Meckerecke: Steinbrücks Kür, Mitt Romneys Kür. Amerika, du hast es besser

In der Tat bezog sich Zettel nur auf das amerikanische Wahlsystem.

Johanes Offline




Beiträge: 2.602

17.02.2018 14:08
#99 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #77
[...]


Erlauben Sie mir die Polemik, lieber nsn: Wenn es wenn diese Theorie der friedlichen Regierungsfolge von Popper ging, dann könnte wir auch gleich eine Art Scherbengericht einführen, durch das die aktuelle Regierung komplett abgesetzt wird und dann einen Gegenkandidaten durch die Lotterie ins Amt einsetzen.

Zumindest in der popularisierten Form, in der ich mit der Theorie der "Kritischen Rationalisten" konfrontiert wurde, fehlt diesem Modell komplett das Element der politischen Teilhabe.

Johanes Offline




Beiträge: 2.602

17.02.2018 14:11
#100 RE: Der letzte Blick in die Kristallkugel: Wie geht die Bundestagswahl aus? Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #79
Natürlich ist es AUCH ein wesentlicher Grundsatz, daß eine friedliche Regierungsabwahl möglich ist. Aber das ist eben nur ein Aspekt. Eigentlich ein ziemlich technokratischer - als wäre eine Regierung ein Unternehmensvorstand, den man bei mangelnder Performance durch irgendwelche Fachleute ersetzen kann.


Ich glaube nicht, dass die gemeinen Anhänger des "Kritischen Rationalismus" mit dieser Charakterisierung ihrer Position sehr zufrieden wären...

Zitat
Sie aber mit Popper völlig zu ignorieren würde die Demokratie zur Farce machen.



Poppers Philosophie hat einen sehr einfachen, aber genialen Clou. Statt sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wie man etwas begründet, herleitet oder rechtfertigt, dreht man den Spieß einfach um.
Es geht also nicht mehr darum, dass man die Demokratie als die beste aller vorhandenen Staatsformen erweist, weil sie die besten Entscheidungen trifft oder so, sondern weil man dort die Regierung am einfachsten loswird.

Der Hintergrund für Poppers Ideen sind, soweit ich das erkennen kann, zunächst einmal das humische Induktionsproblem und das Begründungstrilemma nach Agrippa. Beides Ideen, wie sie im Umfeld der pyrrhonisch-skeptischen Philosophie geprägt und entwickelt wurden. Hume stand den Skeptizismus philosophisch nämlich durchaus nahe.
Kurz zusammengefasst an dieser stelle: Das Induktionsproblem besteht kurz gesagt in der Frage, "wie können wir anhand endlicher Beobachtungen aus aus der Vergangenheit logisch korrekte, gut begründete Schlussfolgerungen für alle Zeiten ziehen?"
Das "Münchhausen-Trilemma" oder Begründungstrilemma oder auch "Agrippa-Trilemma" genannt, geht dagegen von der Begründung aus. Wir wollen einen beliebigen Satz begründen. Dies können wir nur anhand eines anderen Satzes tun. Am Ende stehen wir dann vor drei Alternaitven: Entweder wir brechen die Begründungen irgendwo ab ("Dogmatismus") oder wir begründen irgendwann einen Satz durch einen anderen Satz (Zirkelschluss) oder die Kette der Begründungen hört niemals auf ("Infiniter Regress").
Alle diese Alternativen sind sehr unwillkommen.

Die Beschäftigung mit diesen Problemen, insbesondere den Hume-Problem, hat bei Kant zur Entwicklung seiner kritischen Philosophie geführt, an die Popper zum Teil anknüpfen will. Allgemein führt dies bei vielen Philosophen zur Entwicklung eines Apriorismus, indem dann auf die ein oder andere Weise angenommen wird, bestimmte Voraussetzungen wären im Vornherein klar und müssten nicht mehr begründet werden.
Andere Denker dagegen entwickeltenauf dieser Basis eine Induktionslogik (Carnap zu einem bestimmten Zeitpunkt) oder gingen den Weg in den Bayesianismus. Wobei beides wiederum auf streitbaren Prämissen basiert.

Popper ging einen anderen Weg. Er ging vom Ergebnis aus, dass man eine Erkenntnis nicht letztbegründen kann und ging dann dazu über, dass man eine Theorie daher möglichst so formulieren sollte, dass sie sich leicht widerlegen lässt und das möglichst viel Kritik an ihr möglich ist.
Das berühmte Beispiel mit den schwarzen Schwähnen wird hier genannt. Popper schrieb hier, soweit mein Gedächnis reicht, von einer fundamentalen Asymmetrie zwischen All-Aussagen ("Alle Schwähne sind weiß") und Existenzbehauptungen ("Mindestens ein Schwahn existiert, für den gilt: Er ist nicht weiß"). Naturgesetze wurden dabei als eine Form von All-Aussagen aufgefasst. Während wir selbst bei extrem vielen Beispielen von All-Aussagen nicht sicher sein können, ob es wirklich für alle gilt, reicht schon ein einziges Gegenbeispiel aus, um den All-Aussage zu widerlegen.

Da die Frage nach der besten Staatsform in der politischen Philosophie letztlich nur ein Spezialfall von Begründung ist, ist es naheliegend, ähnliche Maßstäbe anzulegen.

Popper selbst ist übrigens generell nicht unumstritten, auch wenn sich einige seiner Vokabeln, dazu noch falsch verstanden und verwendet, sehr weit verbreitet haben mögen.

P.S.: Wer sich für den Kritischen Rationalismus interessiert, dem kann man im deutschen Sprachraum gegenwärtig eigentlich vor allem die Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" der Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg ans Herz legen.

Es ist allerdings interessant, wer noch so alles über den Kritischen Rationalismus publizierte:
"Fort von Marx -- hin zu Popper: Das fordern junge SPD-Wissenschaftler in einem in dieser Woche erscheinenden Essay-Band, zu dem Bundeskanzler Schmidt das Vorwort schrieb.[...]Die jungen Herausgeber -- alle sind Ökonomen, und drei haben in den letzten Jahren zum Dr. rer. pol. promoviert -- [...] Thilo Sarrazin [...]"
(DER SPIEGEL 19/1975, "Glück ist utopisch", S. 167 ff, Hervorgehoben durch mich)
Link: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41558747.html

Seiten 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | ... 16
 Sprung  



Bitte beachten Sie diese Forumsregeln: Beiträge, die persönliche Angriffe gegen andere Poster, Unhöflichkeiten oder vulgäre Ausdrücke enthalten, sind nicht erlaubt; ebensowenig Beiträge mit rassistischem, fremdenfeindlichem oder obszönem Inhalt und Äußerungen gegen den demokratischen Rechtsstaat sowie Beiträge, die gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen. Hierzu gehört auch das Verbot von Vollzitaten, wie es durch die aktuelle Rechtsprechung festgelegt ist. Erlaubt ist lediglich das Zitieren weniger Sätze oder kurzer Absätze aus einem durch Copyright geschützten Dokument; und dies nur dann, wenn diese Zitate in einen argumentativen Kontext eingebunden sind. Bilder und Texte dürfen nur hochgeladen werden, wenn sie copyrightfrei sind oder das Copyright bei dem Mitglied liegt, das sie hochlädt. Bitte geben Sie das bei dem hochgeladenen Bild oder Text an. Links können zu einzelnen Artikeln, Abbildungen oder Beiträgen gesetzt werden, aber nicht zur Homepage von Foren, Zeitschriften usw. Bei einem Verstoß wird der betreffende Beitrag gelöscht oder redigiert. Bei einem massiven oder bei wiederholtem Verstoß endet die Mitgliedschaft. Eigene Beiträge dürfen nachträglich in Bezug auf Tippfehler oder stilistisch überarbeitet, aber nicht in ihrer Substanz verändert oder gelöscht werden. Nachträgliche Zusätze, die über derartige orthographische oder stilistische Korrekturen hinausgehen, müssen durch "Edit", "Nachtrag" o.ä. gekennzeichnet werden. Ferner gehört das Einverständnis mit der hier dargelegten Datenschutzerklärung zu den Forumsregeln.



Xobor Xobor Forum Software
Einfach ein eigenes Forum erstellen
Datenschutz