Zitat von Doeding im Beitrag #100Vermutlich braucht Labour dann irgendwann nur noch Zustimmungsraten, die der gegenwärtigen deutschen SPD vergleichbar sind.
Das könnte durchaus so sein. Deshalb war ja Cameron bereit, bis zum Äußersten zu gehen, um die konservative Partei zusammenzuhalten. (Das Schottland-Debakel von Labour hat ihm dabei freilich auch geholfen.) Bedauerlicherweise ging sein Kalkül nun knapp daneben.
Zitat von Doeding im Beitrag #90Damit hat er mMn sich und gewissermaßen im Nachhinein auch die Brexiteers endgültig zum Oberhorst gemacht.
Richtig.
Zitat Die ganze Aktion entpuppt sich nun als ein Beispiel für Planlosigkeit und Inkompetenz, gegen die die EU mit all ihren Bürokratismen und Fehlentwicklungen als ein Musterbeispiel von Effizienz und Regierungskunst erscheint.
Weil ja nicht nur Johnson jetzt kneift, auch Farage bietet ein überaus schwaches Bild.
Zitat Mittelfristig geht der EU-Bürokratismus höchstwahrscheinlich massiv gestärkt aus der Sache hervor.
Das Risiko besteht natürlich, aber ich bleibe verhalten optimistisch. Auch wenn sich die Brexit-Bewegung derzeit zerlegt - diverse Regierungschefs auf dem Kontinent haben m. E. einen großen Schreck bekommen und haben bestimmt keine Lust, national abgewatscht zu werden weil die Leute mit Juncker/Schulz unzufrieden sind. Am Ende haben in der EU immer noch die nationalen Regierungen das Sagen, die haben andere Interessen als einen Ausbau der Zentrale.
Zitat von Fluminist im Beitrag #91Über kurz oder lang werden vermutlich Neuwahlen anstehen.
Vermutlich. Das wäre auch die naheliegendste Option, um das Brexit-Votum zu revidieren.
Zitat die Conservative Party muß das pro/contra-EU-Problem in ihren eigenen Rängen lösen; vermutlich wird das auf die Spaltung hinauslaufen, die Cameron mit allen Mitteln zu verhindern versucht hat.
Das sehe ich überhaupt nicht. Es ist normal in einer Partei, daß es auch zu wichtigen Punkten unterschiedliche Positionen gibt. Und die Bedeutung des Themas wird deutlich nachlassen - eben weil Johnson und Kollegen ihre Chance nicht nutzen.
Zitat von Martin im Beitrag #95Sie wissen nicht, welcher Schaden durch die Auflagen vermieden wurde.
Wenn es um zusätzliche Anforderungen an Eigenkapital etc. geht, dann ist eine Schadensvermeidung theoretisch möglich, in der Praxis halte ich das aber für unwahrscheinlich.
Der wesentliche Bereich sind aber die zusätzlichen Berichtspflichten. Und die haben bestimmt nichts verhindert. Denn die Aufsicht hat diese ungeheuren Datenmengen abgegriffen, ohne jemals gezielt irgendwo einzugreifen. Das war schon bei der Schneider-Pleite so: Die Aufsicht war die einzige Stelle, bei der alle Kreditinformationen zusammenliefen und man die Gesamtschuld hätte sehen können. Haben sie aber nicht, die haben das auch nur hinterher aus der Zeitung erfahren.
Lieber Martin, abseits davon, daß ich in dem posting emotional reagiert und deshalb durchaus Schnellschußgefahr meinerseits bestanden hat, so glaube ich doch schon, daß die Glaubwürdigkeit der Kampagne durch diese Entscheidung deutlich leidet, und ich vermute ferner sehr stark, daß das in GB auch so gesehen werden wird. Möglicherweise wird nun jemand (Theresa May) die Verhandlungen führen, die zum Verbleib-Lager gehört hat. Der General sollte idealerweise schon zur gleichen Armee gehören wie der Maschinengewehrschütze, denke ich?
Herzliche Grüße, Andreas
Lieber Andreas, anscheinend hat May aber klar gesagt, dass sie das Referendum ohne Punkt und Komma umsetzen will. Als eigentliche Remain-Befürworterin hat sie vielleicht sogar eine bessere Verhandlungsposition gegenüber der EU als das eher rote Tuch Johnson. Jedenfalls bietet sie weniger kontraproduktive Angriffsfläche.
Zitat The UK is under new leadership this morning following a coup by the Patrician of Ankh-Morpork, Lord Havelock Vetinari.
“Coup is a needlessly dramatic word,” Lord Vetinari told reporters. “I can hardly be said to have violently thrown a government from power when you don’t have one, or an Opposition. Both sides seem entirely preoccupied with what one might call ‘internal matters’. Indeed barely anyone noticed as I walked into Number Ten and installed myself in the best office and Drumknott in an suitable alcove nearby. The only person to do more than raise an eyebrow was Theresa May who I must say kicks like a mule and has a command of the baser aspects of the English language that is entirely formidable.”
Until yesterday Vetinari was the tyrant of Ankh-Morpork the largest and most powerful city on Discworld. A place known to us through the life-enhancingly brilliant reporting of much-missed travel writer Sir Terry Pratchett. Today Lord Vetinari says he’s the man to lead the UK through the Brexit crisis.
“A firm hand is all it takes,” he said calmly. “A firm hand and a willingness to negotiate. I look forward to meeting Angela Merkel and Jean-Claude Juncker immensely. I do hope that they like to play Thud.”
Wobei er ja angeblich den Dritten Deutschen Klassiker zitierte - Julius Caesar, 4. Akt, 3. Szene. Zeilen 218-224. There is a tide in the affairs of men, which, taken at the flood, leads on to fortune. Omitted, all the voyage of their life is bound in shallows and in miseries. On such a full sea are we now afloat, and we must take the current when it serves, or lose our ventures. Laut Welt:
Zitat von Welt, 30.06. 'Bei seinem Rückzug zitiert Boris Johnson Caesars Mörder'Für Johnson bedeutet das den Dolchstoß, den er im Boris-Stil mit Skakespeares Drama "Julius Caesar" kommentierte: "Es gibt Gezeiten für der Menschen Treiben/ Nimmt man die Flut wahr, führt sie uns zum Glück/ Versäumt man sie, so muss die ganze Reise/ Des Lebens sich durch Not und Klippen winden." Ein Zitat von Shakespeares Brutus, Caesars Mörder.
Zitat von Reuters, June 30"I must tell you, my friends, you who have waited faithfully for the punchline of this speech, that having consulted colleagues and in view of the circumstances in parliament, I have concluded that person cannot be me," Johnson said at the close of his speech at a London luxury hotel.
Supporters, gathered for what they thought would be the first speech of his leadership campaign, were stunned. Johnson began by hailing a "moment for hope and ambition for Britain, a time not to fight against the tide of history but to take that tide at the flood and sail on to fortune".
Liebe Bildungslückenpresse, zwischen einer Anspielung (engl. "allusion") & einem Zitat gibt es gewisse Unterschiede. War euch in der Causa Guttenberg mal wichtig. Nb.: "eine Reise, die sich durch Klippen windet." Mal von der einem deutschen Shakespeare würdigen Katachrese abgesehen, heißt das auf Neudeutsch Wer zu spät kommt, den bestraft der Lehrer. Aber bezeichend, daß unsere Journos den 3. dt. Klassiker immer noch in der gruseligen Schlegel-Tieckschen Version in petto haben.
Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire
Lieber Martin, abseits davon, daß ich in dem posting emotional reagiert und deshalb durchaus Schnellschußgefahr meinerseits bestanden hat, so glaube ich doch schon, daß die Glaubwürdigkeit der Kampagne durch diese Entscheidung deutlich leidet, und ich vermute ferner sehr stark, daß das in GB auch so gesehen werden wird. Möglicherweise wird nun jemand (Theresa May) die Verhandlungen führen, die zum Verbleib-Lager gehört hat. Der General sollte idealerweise schon zur gleichen Armee gehören wie der Maschinengewehrschütze, denke ich?
Herzliche Grüße, Andreas
Lieber Andreas, anscheinend hat May aber klar gesagt, dass sie das Referendum ohne Punkt und Komma umsetzen will. Als eigentliche Remain-Befürworterin hat sie vielleicht sogar eine bessere Verhandlungsposition gegenüber der EU als das eher rote Tuch Johnson. Jedenfalls bietet sie weniger kontraproduktive Angriffsfläche.
Gruß, Martin
Sozusagen only Nixon could go to china unter anderen Vorzeichen .
Herzliche Grüße, Andreas
"Man kann einen gesellschaftlichen Diskurs darüber haben, was Meinungsfreiheit darf. Oder man hat Meinungsfreiheit." (Christian Zulliger)
Zitat von Martin im Beitrag #105 Lieber Andreas, anscheinend hat May aber klar gesagt, dass sie das Referendum ohne Punkt und Komma umsetzen will.
Hat sie. Wird, auch, als taktisches Manöver gesehen, weil sie in der Kampagne dem Hause Remainov die Treue hielt. Telegraph, heute.
Zitat von June 30Theresa May has attempted to burnish her Eurosceptic credentials by announcing that she will set up a “ministry for Brexit” if she becomes Prime Minister.
Launching her leadership campaign, the Home Secretary says that there is no turning back on Brexit and that quitting the EU not be “brief or straightforward”.
“I will therefore create a new government department responsible for conducting Britain’s negotiation with the EU and for supporting the rest of Whitehall in its European work,” she said. “That department will be led by a senior Secretary of State - and I will make sure that the position is taken by a Member of Parliament who campaigned for Britain to leave the EU.”
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #110Wird, auch, als taktisches Manöver gesehen, weil sie in der Kampagne dem Hause Remainov die Treue hielt.
Als Parteivorsitzende muß sie natürlich auch die EU-Gegner einbinden. Und natürlich kann sie sich jetzt nicht offen gegen das Ergebnis des Referendums stellen.
Insofern ist es legitim und geschickt, einen Brexit-Anhänger mit allem Pomp (eigenes Ministerium ...) mit den Verhandlungen zu beauftragen. Dann ist der auch für alle schlechten Nachrichten verantwortlich, die dort entstehen werden.
Sie selber kann sich erst einmal zurückhalten und kann am Ende die Verhandlungsergebnisse beurteilen.
Zitat von Doeding im Beitrag #90 Damit hat er mMn sich und gewissermaßen im Nachhinein auch die Brexiteers endgültig zum Oberhorst gemacht.
Ja, es gibt schon Leute, die machen einfach alles falsch. Erst wird ihnen unterstellt, dass sie alles nur aus Machtgeilheit machen, um MP zu werden. Wenn dann die Macht greifbar nahe ist (und es gibt wohl wenig Zweifel, dass er den Job bekommen hätte, wenn er jetzt ja gesagt hätte) und der Mann erklärt, dass er den Job eben nicht will, dann ist das kein Grund vielleicht ein bissel über die ursprüngliche Idee nachzudenken, sondern gleich der Beleg für die nächste Unterstellung. Die alte ist dann auch nicht mehr wichtig. Irgendwas macht er immer falsch. Ich glaube nicht, dass er sich zum Oberhost (oder auch nur Horst) gemacht hat (den Titel haben Schulz & Juncker in dieser Angelegenheit ohnehin für sich gepachtet). Sondern er hat ziemlich klar gemacht, dass er für eine bestimmte Idee gekämpft hat, und das eben genau OHNE diese Machtgeilheit zu haben, die man ihm vorher so gerne angedichtet hat.
Ich bin auch der Meinung, dass Merkel seit 11 Jahren so ziemlich alles falsch macht, was man falsch machen kann. Das heisst nicht, dass ich den Job haben will.
Zitat Mittelfristig geht der EU-Bürokratismus höchstwahrscheinlich massiv gestärkt aus der Sache hervor.
Zitat von Doeding im Beitrag #90 Damit hat er mMn sich und gewissermaßen im Nachhinein auch die Brexiteers endgültig zum Oberhorst gemacht.
Ja, es gibt schon Leute, die machen einfach alles falsch.
Rieschtiesch. Boris Johnson ist, mit Blick auf den Brexit, so jemand.
Zitat Erst wird ihnen unterstellt, dass sie alles nur aus Machtgeilheit machen, um MP zu werden. Wenn dann die Macht greifbar nahe ist (und es gibt wohl wenig Zweifel, dass er den Job bekommen hätte, wenn er jetzt ja gesagt hätte) und der Mann erklärt, dass er den Job eben nicht will, dann ist das kein Grund vielleicht ein bissel über die ursprüngliche Idee nachzudenken, sondern gleich der Beleg für die nächste Unterstellung.
Das wiederum ist eine (wenn auch für Johnson wohlmeinende) Unterstellung. Nach allem, was bislang in Erfahrung zu bringen gewesen ist, wurde er abgesägt. Daher wohl auch sein "Brutus"-Zitat. Natürlich wollte er Premier werden. Und hat sich dafür mehrfach zum Ober-Oberhorst gemacht. Ursprünglich ist er wohl überhaupt kein Brexiteer gewesen: http://www.t-online.de/nachrichten/ausla...sgetrickst.html Ich habe ihm zunächt übrigens gar nix unterstellt (noch eine Unterstellung Deinerseits ;)), sondern ich hätte erwartet, daß er für das, wofür er eingetreten ist, auch politisch geradesteht. Daß das offenbar gar nicht mehr in seiner Hand gelegen hat, ist mir erst im Nachhinein durch die Berichterstattung der letzten Tage klar geworden
Zitat Sondern er hat ziemlich klar gemacht, dass er für eine bestimmte Idee gekämpft hat, und das eben genau OHNE diese Machtgeilheit zu haben, die man ihm vorher so gerne angedichtet hat.
Auch dies, lieber Llarian, ist eben nichts anderes als eine Andichtung, und in diesem Fall keine besonders überzeugende (s. o.)
Herzliche Grüße, Andreas
"Man kann einen gesellschaftlichen Diskurs darüber haben, was Meinungsfreiheit darf. Oder man hat Meinungsfreiheit." (Christian Zulliger)
Zitat von Doeding im Beitrag #114 Rieschtiesch. Boris Johnson ist, mit Blick auf den Brexit, so jemand.
Mit Blick auf den Brexit macht jeder, der dafür ist, alles falsch. Zumindest aus Sicht der meisten Deutschen und Presseorgane. Insofern ist er nicht einsam.
Zitat Nach allem, was bislang in Erfahrung zu bringen gewesen ist, wurde er abgesägt. Daher wohl auch sein "Brutus"-Zitat. Natürlich wollte er Premier werden. Und hat sich dafür mehrfach zum Ober-Oberhorst gemacht. Ursprünglich ist er wohl überhaupt kein Brexiteer gewesen: http://www.t-online.de/nachrichten/ausla...sgetrickst.html
Dieser Artikel, den Du da verlinkst, ist mit aller Wahrscheinlichkeit eines der übelsten Stücke an Schmierenjournalismus (schon das Wort ist zu hoch), dass mir durch die letzten Jahre begegnet ist. Eine Unterstellung nach der anderen, praktisch null Fakten, haufenweise Behauptungen, ehrabschneidende Aussagen und Schlußfolgerungen. Wenn ich einen Artikel schreiben würde, über die Qualität der vorgeblich berichtenden Presse, dieser Artikel wäre als Kronzeuge qualifiziert. Eine Aussage über Boris Johnson kann man aus diesem "Werk" sicher nicht ableiten, allenfalls das ihn der Autor (stellvertretend für vermutlich den allergrößten Teil der deutschen Presse) nicht leiden kann. Letztes Stichwort der Absurdität zum Thema alles falsch machen, ist am Ende auch noch einmal deutlich geworden: Erst wird lange hergeleitet, dass man ihn abgesägt hätte (wie gesagt, ohne Beleg, aber okay), dann wird aber trotzdem die Feigheit und Fahnenflucht nachgeschoben. Eben alles falsch. Deutscher Journalismus at its best.
Zitat Ich habe ihm zunächt übrigens gar nix unterstellt (noch eine Unterstellung Deinerseits ;)), sondern ich hätte erwartet, daß er für das, wofür er eingetreten ist, auch politisch geradesteht.
Aber das tut er doch, lieber Andreas. Er kann auch gar nicht anders. Boris Johnson ist das Gesicht der Brexit Bewegung. Und was immer jetzt dabei rauskommt, fällt ihm auf die Füße. Dazu muss er nicht Premier werden. Dafür muss er rein gar nichts tun. Es hat mit politischem Geradestehen nicht das Geringste zu tun, ob man Premierminister wird. Ich kann mir auch vorstellen Merkel abzusägen (wenn ichs denn könnte), ohne deswegen Kanzler werden zu wollen. Alleine, die Verantwortung hätte ich trotzdem. Als Genscher 82 Schmidt "absägte", wurde er auch nicht Kanzler. Und trotzdem war die Verantwortung immer bei der FDP gewesen (und wird ja von diversen Roten bis heute hochgehalten). Es ist vollkommen sinnlos Johnson Feigheit zu unterstellen, seine Entscheidung nicht Premier zu werden hat mit Mut nichts zu tun. Der Vorwurf dient einzig und allein dem Dreckwerfen auf die Brexit Bewegung. Wie in Deutschland halt absolut üblich.
Zitat von Llarian im Beitrag #113Erst wird ihnen unterstellt, dass sie alles nur aus Machtgeilheit machen, um MP zu werden.
Johnson HAT alles aus Machtgeilheit gemacht. Er war zuerst EU-Anhänger - und ist dann umgeschwenkt, weil die Brexiteers ihm den MP-Job versprochen haben.
Und als er dann hätte kandidieren müssen (nämlich gleich nach dem Cameron-Rücktritt), da hat er gezögert und rumgeeiert. Da hat er sich auf den Landsitz zurückgezogen und ihm ist bewußt geworden, daß er vor die Wand fahren wird, wenn er jetzt als PM den Brexit realisieren muß. Und dann hat er weiter gezögert - bis seine Genossen die Geduld verloren haben und Gove selber die Kandidatur erklärt hat.
Zitat Ich glaube nicht, dass er sich zum Oberhost (oder auch nur Horst) gemacht hat (den Titel haben Schulz & Juncker in dieser Angelegenheit ohnehin für sich gepachtet).
Er hat sich zum obersten Horst gemacht und die britischen Medien sehen das auch ziemlich einheitlich so. Den Mund spitzen und dann doch nicht pfeifen - das gilt auf der Insel als ultimative Führungsschwäche. Daß Juncker und Schulz ähnliche Vollpfosten sind ist hier wohl Konsens. Und nun hat sich auch Farage entsprechend geoutet.
Zitat von Llarian im Beitrag #115Dieser Artikel, den Du da verlinkst, ist mit aller Wahrscheinlichkeit eines der übelsten Stücke an Schmierenjournalismus (schon das Wort ist zu hoch), dass mir durch die letzten Jahre begegnet ist.
Es gibt einige Punkte im Artikel, die ich anders sehe. Aber daß es bei den Tories hoch hergegangen ist, das ist ziemlicher Konsens in den britischen Medien. Das Original des Artikels findest Du im Daily Telegraph.
Zitat allenfalls das ihn der Autor (stellvertretend für vermutlich den allergrößten Teil der deutschen Presse) nicht leiden kann.
Der Original-Autor ist von der britischen Presse, der Daily Telegraph eine sehr Brexit-freundliche konservative Zeitung.
Zitat Erst wird lange hergeleitet, dass man ihn abgesägt hätte (...), dann wird aber trotzdem die Feigheit und Fahnenflucht nachgeschoben.
Abgesägt im Sinne von "er hat keine Mehrheit mehr". Aber erstens ist das eben Folge seines tagelangen Zögerns (nur deswegen kam ja die Intrige) und zweitens hätte er trotzdem kandidieren müssen, wenn er Mumm hat und zu seinen Positionen steht. Es ist nicht ehrenrührig, wenn man keine Mehrheit für seinen Kurs kriegt. Es ist ehrenrührig, wenn man gar keinen Kurs hat und nicht kandidiert, um keine Abstimmungsniederlage abzukriegen.
Zitat Boris Johnson ist das Gesicht der Brexit Bewegung.
Eben. Und dann müßte er jetzt alles tun, um die Brexit-Chance (mehr ist es bisher nicht) auch zu nutzen.
hoffentlich störe ich die laufende Diskussion nicht zu sehr, wenn ich diesen Thread mal nutze, um meinen persönlichen Eindruck vom Brexit zu schildern. Als ganz persönlicher Eindruck erhebt er natürlich nicht den Anspruch auf letzte Wahrheit. Am Donnerstag war ich ins Bett gegangen mit der wagen Erwartung, dass die Brexit-Gegner sich durchsetzen würden. Allerdings beschloss ich, das Thema dann in den nächsten Tagen zu meiden, weil sich in den Medien ein Hohn und Spott über jegliche Kritik an der EU ergießen würde, das sachlich nicht zu rechtfertigen wäre.
Wie wir inzwischen alle wissen, kam es dann allerdings anders. Am nächsten morgen habe ich erfahren, dass die Briten mit knapper Mehrheit aber eben doch eindeutig für einen Ausstieg aus der EU gestimmt haben. Ich war perplex. Im Laufe der Zeit ergab sich dann eine gewisse gedrückte Stimmung, wegen des Aktienmarktes, der möglichen schottischen Unabhängigkeit und dergleichen. (Um Ehrlich zu sein, meine Stimmung beeinfluss natürlich in erster Linie mein Berufs- und Privatleben, aber darum geht es hier ja nicht.) Mich ließ das ganze ziemlich zwiegespalten zurück. Auf der einen Seite war der Brexit vielleicht exakt der Denkzettel, der für die politische Kultur der letzten Jahre notwendig wurde. Doch auf der anderen Seite waren die Briten stehts bemüht, die Europäische Union auf den richtigen Kurs zu halten, z. B. mit ihren klaren Nein zu einer Finanztransaktionssteuer. Ohne die Briten würde diese Stimme in der EU fehlen und andere politische Kräfte bekommen freie Bahn. Effektiv würde die Situation für einen EU-Kritiker deshalb sogar schlechter werden. Dies wurden in den Medien selbstredend nicht so erkannt. Es kamem jede Menge wichtiger Leute zu Wort, die sagten, nun seien Reformen notwendig, um mehr Exit-Bewegungen zu verhindern. Das schien die allgemeiene Stimmung in dieser Gruppe gewesen zu sein. Doch sagt der Wunsch nach Reformen erst mal nicht viel. Reformen können in Richtung Subsidiarität und echten Föderalismus oder in Richtung Zentralstaat und Vereinheitlichung gehen! Leider, aus meiner Sicht, steht zu befürchten, dass letzterer Weg eingeschlagen wird.
Gegen Abend wurde dann die fiktive Aufnahme eines unabhängigen Schottlands (und Nordirlands über Irland) in die EU debattiert. Das rief dann die Sorge in mir wach, man könnte vielleicht an den austrittswilligen Briten ein Exempel statuiert. Das würde dann als das Totschlagargument schlechthin jegliche Diskussion über die Europapolitik und weitere europäische Integration determinieren: "Seht her, wie es den Briten nach dem Brexit ergangen ist. Wollt ihr, dass es uns genauso geht? Also, eine europäische Sozialversicherung ist alternativlos".
Die Reaktion auf den Brexit dort wo man Meinungen austauscht, ist übrigens ebenso gespalten wie meine erste Empfindung. Die eher linken EU-Befürworter mit "leichten" (bis stärkeren) antiamerikanischen Einschlag - der Typ, dem man in SPON-Forum begegnet, oft genug sonst recht gebildete und wache Menschen - , werden wohl jubeln, dass die Briten als "Trojanisches Pferd" der Amerikaner endlich weg sind. Dort wird man sich wünschen, dass jetzt endlich aufs Gaspedal in Sachen EU gedrückt wird. Viele "EU-Kritiker" haben sich über den Ausstieg der Briten gefreut und träumen jetzt von einem eigenen Ausstieg ihrer jeweiligen Nationalstaaten. Ob diese Leute dabei bedacht haben, wie stark Europa schon vernetzt ist und wie die rein wirtschaftlichen Auswirkungen sein werden? Zudem nicht alle Staaten von einer Insellage oder einem Commonwealth profitieren können? Ich habe meine Zweifel. Allerdings muss man diese Personengruppen im RL mit der Lupe suchen.
Hier in Zettels Raum und in vergleichbaren Medien scheint die Sorge und Skepsis die Hoffnung klar zu überwiegen.
Wahrscheinlich wird der Stand für die Leute, die die EU lieber als lockere Freihandelszone denn als Zentralstaat sehen wollen, noch sehr viel bitterer werden, weil sie ab jetzt grundsätzlich mit den Exit-Befürwortern in einen Topf geworfen werden. Eine viel größere Sorge ist auch die außenpolitische Darstellung der EU. Wie wird sich unser Verhältnis zu den Amerikanern, im Nahen Osten oder auf Asien ändern?
Das ware, wie gesagt, meine persönlichen, spontanten Gedanken zum Brexit gewesen. Sie beziehen sich auf Donnerstag und Freitag nach dem Ausstieg.
Zitat von n-tv, 30.06."Auch der ödipale Gestus dieses Triumphs füttert den Mythos des unberechenbaren Exzentrikers". ... Jetzt da sich zeige, in welche Katastrophe die planlosen "Brexiteers" ihr Land führten, verließe ihn sein Mut und seine Großmäuligkeit, schreibt die FAZ. "Seine Versprechen sind nicht zu erfüllen". Es bestehe nun kein Zweifel mehr daran, dass Johnson nicht der Richtige für das Amt des Premierministers gewesen wäre. "Die Briten aber müssen sich nach seinem Offenbarungseid um so mehr fragen, warum sie ihm nachliefen."
Nebenbei: es stimmt hoffnungsfroh, daß "in diesen geistfernen Zeiten" der Ausübung der Schönen Künste noch eine Rolle zukommt. Immerhin ist Herr Johnson erst vor kurzem mit einem hochdotierten Preis für Lyrik ausgezeichnet worden.
Und da es sich, in der Riege der führenden Staatsmänner, beim türkischen Präsidenten ebenfalls um einen Feingeist handelt, dem die öffentliche Pflege der Dichtkunst eine Herzensangelegenheit ist, versprechen wir uns vom ersten Staatsbesuch des neuen Außenministers in Ankara eine Sternstunde der Poesie.
Zitat "She's got dyed blonde hair and pouty lips, and a steely blue stare, like a sadistic nurse in a mental hospital," he wrote in the Telegraph in 2007. He added that she spent her years as First Lady "a mixture between Cherie Blair and Lady Macbeth, stamping her heel, bawling out subordinates and frisbeeing ashtrays at her erring husband"."
Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire
Hehe. Ich hab mir gerade einmal den Leitartikel im Telegraph von November 2007 rausgesucht, in dem Boris Johnson seinem rhetorischen Affen Zucker gibt. Hübscher Titel auch.
Zitat von Telegraph, 01 Nov 2007She's got dyed blonde hair and pouty lips, and a steely blue stare, like a sadistic nurse in a mental hospital.
How can I possibly want Hillary? I mean, she represents, on the face of it, everything I came into politics to oppose: not just a general desire to raise taxes and nationalise things, but an all-round purse-lipped political correctness.
How could I possibly emit the merest peep of support for a woman who seems to have acted out the role of First Lady, from 1993 to 2000, like a mixture between Cherie Blair and Lady Macbeth, stamping her heel, bawling out subordinates and frisbeeing ashtrays at her erring husband? ... For all who love America, it is time to think of supporting Hillary, not because we necessarily want her for herself but because we want Bill in the role of First Husband. And if Bill can deal with Hillary, he can surely deal with any global crisis.
Gefärbte Haare...hat sie ihn schon vor den Kadi geschleift?
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Ich sehe mehr Chancen bei den Briten. Sicherlich gibt's ein paar volkswirtschaftliche Dämpfer, aber mittelfristig wird sich das in die entgegengesetzte Richtung entwickeln, weil sie den Brüsseler Wasserkopf los sind. Ich habe heute den Kopf schütteln müssen, weil ich las, dass der EUGH veranlassen könnte, dass die Waldschlösschenbrücke abgerissen werden könnte. Dass angeblicher Umweltschutz mit Europas Schützenhilfe solide geplante, solide finanzierte und vom Volk abgesegnete Projekte verzögert, verhindert und verteuert, hat mir gezeigt, dass es so schlecht nicht sein kann, dieser EU den Rücken zu kehren. Die EU spricht ja noch ganz andere Urteile, die einen Sozialtourismus ermöglichen.
Als Aktionär gingen vor allem meine beiden Positionen BP und GSK seit dem Brexit in die Höhe (in Euro bemessen). Leider ist das Pfund gefallen, sodass die Dividenden nicht mehr ganz so schmackhaft sind.
Das Kernproblem der EU, welches ist seit Jahren ist, ist die deutsche Krankheit. Deutschland krankt seit Jahrzehnten daran, dass der Föderalismus windelweich geprügelt wurde. Es gibt kein Subsidaritätsprinzip mehr. Man weiß nicht, wer zuständig ist, die Gelder fließen kreuz und quer durch die politischen Entitäten. Und dieses Problem sieht man eine politische Ebene obendrüber. Ich stehe der anglo-amerikanischen Staatsauffassung viel näher als der kontinentaleuropäischen. Bei uns wurde die Verfassung mit einem moralischen Federstrich geschrieben, aber wie das Staatswesen funktionieren soll, ist sehr stiefmütterlich und unklug ausgearbeitet. Das ist in den USA anders. Da wurde sich mit Checks and Balance und mit Gewaltenteilung viel stärker auseinandergesetzt und diese Prinzipien wurden auch hochgehalten. Deswegen funktionieren die USA auch besser als Deutschland bzw. die EU.
Und ich bin so fies, mir leichte Hme & etwas Sptt nicht zu verkneifen.
Also ich hab da keine Sorge. Da wir ja ohnehin inzwischen wissen, dass Johnson erst einmal grundsätzlich alles falsch macht (weil er Europa kaputt macht, feige ist, dumm ist, etc. etc. etc. pp), haben wir damit schon einmal einen wunderbaren Karl-August gefunden, der an allem Schuld ist, was jetzt zwischen EU und GB schief geht. Analog zu dem schönen Artikel, der diese Woche bei Tichy zu finden war: Die Tatsache, dass er jetzt Aussenminister geworden ist, beweisst doch nur war für ein feiger Drückeberger er eigentlich ist. Und sollten sich die Beziehungen von GB nach aussen nicht sofort massiv verschlechtern, dann ist das der Beweis, dass er selbst dazu zu blöd ist.
PS. Wer eine Spur von Ironie findet darf sie behalten.
Zitat von Jakob Nierstein im Beitrag #123Ich sehe mehr Chancen bei den Briten. Sicherlich gibt's ein paar volkswirtschaftliche Dämpfer, aber mittelfristig wird sich das in die entgegengesetzte Richtung entwickeln, weil sie den Brüsseler Wasserkopf los sind.
Das ist, bei aller Sympathie für die Briten und ihre Entscheidung, sehr unwahrscheinlich. Zum einen deshalb weil der Brüsseler Wasserkopf noch nie besonders dramatisch für die Briten gewesen ist. Die beiden "großen EU Vorteil" Euro und Schengen war bei den Briten noch nei ein Thema, d.h. die zentralen Beglückungen unter denen die Nordländer derzeit leiden, haben in GB noch nie eine große Rolle gespielt. Insofern kann auch der Abwurf des "Wasserkopfes" da nicht viel zum besseren ändern. Das bischen was die Briten bisher netto an die EU gezahlt haben, ist im Rahmen des Gesamtsteueraufkommens in GB nahezu unbedeutend. Umgekehrt hat GB ein gewaltiges Problem, völlig unabhängig von der EU: Es hat sich durch die letzten Jahrzehnte massiv deindustrialisiert. Und hat bis heute keine Antwort auf diese Problem gefunden, außer der absurden Idee man könne mit Dienstleistungen und "Finanzprodukten" (Llarians persönliches Unwort des Jahres) eine moderne Volkswirtschaft erhalten. Die sklerotischen Probleme, unter denen Europa leidet, wie Überalterung, wachsende Menge an Unqualifizierten, zunehmender Verlust der technischen Vormachtsstellung, sind in GB nach wie vor vorhanden und werden auch nicht so schnell verschwinden.
Es mag sein, dass GB dadurch, dass es beispielsweise das Flüchtlingsproblem vermeidet, dass es kein Geld in das südeuropäische Faß ohne Boden wirft oder sich solchen Irrsinn wie die "Energiewende" nicht leistet, nicht ganz so schnell abstürzen wie andere Länder das vielleicht tun können. Aber gut sind die Aussichten deswegen noch lange nicht. Und auch wenn ich den Briten die Freiheit zugestehe zu leben, wie sie es wollen, sollte man nicht vergessen, dass der größte Teil der derzeitigen Exit-Bewegung, die ja nun erst einmal den Wind bestimmt, nicht gerade aus dem wirtschaftsliberalen Lager kommt. Wenn GB auf die Idee kommt sich jetzt einzuigeln und alles mit Zöllen hochzuziehen, dann gehen die schneller unter als Griechenland die nächste Tranche Rettungsgelder verbrennt.
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