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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
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TF Offline



Beiträge: 281

09.06.2017 16:02
#201 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Es ist doch ganz einfach: Konservative (318 oder 319 Sitze)+DUP (10)+Speaker (Tory, aber nicht in der Sitzzahl der Konservativen enthalten) = 329 oder 330 Sitze, denen abzüglich Sinn Fein 313 oder 314 andere gegenüberstehen. Das ist keine extrem knappe Mehrheit. Selbst wenn das Parlament gar nichts beschließt, ist das Land am 28.3.2019 raus aus der EU, es sei denn der Europäische Rat verlängert die Zweijahresfrist einstimmig. Man könnte höchstens vertreten, dass GB den Austritt zurückziehen könne. Davon steht aber in Art. 50 EU-Vertrag nichts. Es ist also mindestens zweifelhaft, ob dies rechtlich überhaupt möglich ist. Politisch ist es ohnehin kaum machbar.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

09.06.2017 17:00
#202 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von Frankenstein im Beitrag #200
Werter R. A., da lagen die Auguren doch tatsächlich wieder mal voll daneben:

Was Schottland betrifft, muß ich überrascht zugestehen, daß ich das falsch eingeschätzt habe. Was die Auguren betrifft, vermisse ich den erdrutschartigen Tory-Wahlsieg, der prognostiziert wurde.

Überhaupt ein merkwürdiges Ergebnis. Es gibt weniger Parteien im Westminster-Parlament (acht statt vorher elf), aber trotzdem keine klare Mehrheit.
So allmählich sollten sich die Briten mal überlegen, ob ihr antiquiertes Wahlsystem nicht endlich ins Museum gehört.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

09.06.2017 17:05
#203 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von TF im Beitrag #201
Das ist keine extrem knappe Mehrheit.

Das ist unter den Rahmenbedingungen des britischen Parlaments eine extrem knappe Mehrheit (siehe Beitrag von Florian) und es ist eher unwahrscheinlich, daß May die volle Legislaturperiode durchhält.

Zitat
Selbst wenn das Parlament gar nichts beschließt, ist das Land am 28.3.2019 raus aus der EU


Das wäre dann der härtestmögliche Brexit. Häßlich für die EU, ein Desaster für GB.

Zitat
Man könnte höchstens vertreten, dass GB den Austritt zurückziehen könne. Davon steht aber in Art. 50 EU-Vertrag nichts. Es ist also mindestens zweifelhaft, ob dies rechtlich überhaupt möglich ist.


Die Zweifel beziehen sich nur darauf, ob GB den einseitig zurückziehen kann (eher nicht).
Falls die EU aber zustimmt, wäre die Zurückziehung des Antrags überhaupt kein Problem. Im Konsens können Vertragspartner so etwas immer machen. Dann wäre die Sache einfach vom Tisch und die Mitgliedschaft würde zu bekannten Konditionen weiterlaufen, es gäbe keinerlei Regelungsbedarf.

Zitat
Politisch ist es ohnehin kaum machbar.


Von EU-Seite wäre das kein Problem, die Zustimmung wäre sehr wahrscheinlich.
Auf britischer Seite kommt es halt darauf an, wie die nächsten zwei Jahre und die Verhandlungen laufen. Wenn die Ergebnisse nicht überzeugen, wäre eine politische Mehrheit für den Abbruch des Austritts durchaus möglich und vertretbar.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

09.06.2017 17:18
#204 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von TF im Beitrag #201
Man könnte höchstens vertreten, dass GB den Austritt zurückziehen könne. Davon steht aber in Art. 50 EU-Vertrag nichts. Es ist also mindestens zweifelhaft, ob dies rechtlich überhaupt möglich ist.

Rechtlich gesehen gibt es ja übrigens auch die Meinung, daß das UK überhaupt noch keine legale Erklärung gemäß Art. 50 abgegeben hat. Es stimmt zwar, daß May einen etwas verschwurbelten Brief an Tusk hat zustellen lassen, aber Art. 50 fordert einen Beschluß gemäß der Verfassungsordnung des Landes.
Bei genauerem Hinsehen hat es einen solchen Beschluß noch nicht gegeben. Das Referendum war im konstituierenden Gesetz explizit als nicht rechtlich bindend charakterisiert (weshalb auch kein Schutzmechanismus durch Quorum oder qualifizierte Mehrheit eingesetzt wurde), stellt also per se keinen verfassungsrechtlich legalen Austrittsbeschluß dar.
Das Anfang dieses Jahres im Parlament beschlossene Gesetz tut's aber auch nicht, denn dieses ermächtigt nur den Premierminister die Erklärung nach Art. 50 abzugeben, ohne eine Entscheidung in der Substanz dieser Erklärung zu fällen. Es klärt nur den Verwaltungsvorgang, nicht dessen Grundlage.

Bei der Linkshändigkeit, mit der die Regierung May bisher alle ihre Aktionen durchgeführt hat, ist ein bloßes Übersehen hier nicht auszuschließen; aber es erscheint doch angesichts der Tatsache, daß Regierung und Parlament ohne weiteres über kompetente juristische Berater verfügen können sollten, etwas unwahrscheinlich. Hat sich hier die UK-Regierung absichtlich eine Notbremse eingebaut?

Publius Offline



Beiträge: 127

09.06.2017 18:08
#205 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #202
Überhaupt ein merkwürdiges Ergebnis. Es gibt weniger Parteien im Westminster-Parlament (acht statt vorher elf), aber trotzdem keine klare Mehrheit.
So allmählich sollten sich die Briten mal überlegen, ob ihr antiquiertes Wahlsystem nicht endlich ins Museum gehört.

Und Sie meinen, lieber R. A., dass durch ein anderes Wahlsystem, wie z.B. das Verhältniswahlrecht, die Regierungsbildung in Großbritannien erleichtert wird?

Gruß

Publius

Frankenstein Offline




Beiträge: 891

09.06.2017 18:43
#206 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #202
So allmählich sollten sich die Briten mal überlegen, ob ihr antiquiertes Wahlsystem nicht endlich ins Museum gehört.

Zettel hatte die in der angelsächsischen Welt üblichen Wahlsysteme seinerzeit zu Recht gepriesen.

Das Mehrheitswahlrecht gewährleistet den Abgeordneten eine gewisse Unabhängigkeit vom Parteiapparat - es ist eher das deutsche System mit Listen, dass auf den Müllhaufen der Geschichte gehört.

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

09.06.2017 19:26
#207 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #204
Das Anfang dieses Jahres im Parlament beschlossene Gesetz tut's aber auch nicht, denn dieses ermächtigt nur den Premierminister die Erklärung nach Art. 50 abzugeben, ohne eine Entscheidung in der Substanz dieser Erklärung zu fällen. Es klärt nur den Verwaltungsvorgang, nicht dessen Grundlage.
Das verstehe ich nicht. Was ist an diesem Brief unzureichend?

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

09.06.2017 19:45
#208 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von Frankenstein im Beitrag #206
Zettel hatte die in der angelsächsischen Welt üblichen Wahlsysteme seinerzeit zu Recht gepriesen.

Das Mehrheitswahlrecht gewährleistet den Abgeordneten eine gewisse Unabhängigkeit vom Parteiapparat - es ist eher das deutsche System mit Listen, dass auf den Müllhaufen der Geschichte gehört.
Auch im Unterhaus gibt es Fraktionszwang. Dieses Argument gilt also nicht.

Ob Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht hängt davon ab, ob man die Abgeordneten als Vertreter des Volkes sieht oder nur als Vertreter ihres Wahlkreises. Im ersteren Falle ist die Konsequenz, daß sich die Vielfalt der polithschen Präferenzen bei den Wählern in (etwa) derselben Vielfalt bei den Abgeordneten widerspiegeln muß. Daher das Verhältniswahlrecht. Das Mehrheitswahlrecht im angelsächsischen Raum ist historisch begründet. Übrigens haben im UK die Wahlkreise sehr unterschiedliche Anzahlen von Wahlberechtigten! Bei uns wäre das eine Verletzung des Prinzips der Gleichheit der Wahl.

Das frühere deutsche System mit den Erst- und Zweitstimmen hat das Potential ein guter Kompromiß zu sein: Es gibt die Erststimmensieger, die ihren Wahlkreis vertreten, und es gibt in demselben Parlament trotzdem eine recht gute Übereinstimmung der Mehrheitsverhältnisse mit denen im Volk. Der Punkt ist Ihnen ja auch wichtig:

Zitat von Frankenstein im Beitrag #199
Die Konservativen haben bei der Wahl über 2,3 Millionen Stimmen hinzugewonnen und ihren prozentualen Anteil um 4,5% gesteigert.


Und wenn der Landesverband einer Großpartei hauptsächlich Deppen als Wahlkreiskandidaten aufstellt, wird er bestraft, indem die andere Großpartei mehr Überhangmandate bekommt. Leider hat man es nie geschafft, auf Bundesebene dieses Wahlsystem in den Details sauber funktionierend einzurichten, obwohl es möglich wäre.

Llarian Offline



Beiträge: 7.107

09.06.2017 22:32
#209 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #198
Wenn sich die Verhältnisse ändern, kann man ein Referendumsergebnis ähnlich durch ein neues Ergebnis ersetzen wie man ein Wahlergebnis durch ein neues ersetzt.

Nur haben sich die Verhältnisse nicht geändert. Jetzt neu zu refferendieren entspricht genau dem: Wählen bis das Ergebnis passt. Kann man machen.

Zitat
Mit ähnlicher Berechtigung könnte man auch ein neues Referendum durchführen und die erzielten Verhandlungsergebnisse (oder das Fehlen derselben) zur Abstimmung stellen.


Natürlich kann man das. Und das kann man auch jedes Jahr neu machen. Oder alle sechs Monate. Bis es halt passt. Dann hört man allerdings besser auf. Denn dann (und nur dann) hat ja das Volk gesprochen und das soll doch jetzt bitte endlich ernst genommen werden.

Zitat
Natürlich gibt es die, und die EU hat das auch angeboten. Der "hard brexit" steht eigentlich nur im Raum weil die Briten sich nicht entscheiden können, welche ihrer realitätsfernen Forderungen sie im Zweifelsfall nach hinten stellen.


Da lachen ja die Hühner. Die Briten stellen nahezu keine Forderungen, mal ab davon, dass sie gerne im Binnenmarkt bleiben würden. Forderungen stellt vor allem Brüssel und die sind derart hahnebüchen (und das ist kein Zufall), dass es nur dazu kommen kann, dass das Ganze knallt. Das ist auch Sinn und Zweck der Übung. Ich sags nochmal: Weder Juncker noch seine Eurokratie kann sich einen "weichen" Brexit leisten. Das allerschlimmste was für Juncker & Co. passieren könnte, wäre, dass die Briten austreten und mit einem blauen Auge aus der Nummer raus kommen. Dann ist die EU in weniger als 10 Jahren am Ende. Die brauchen den harten Brexit mehr als alles andere. Und darum steht der im Raum und deswegen kommt es auch dazu.

Zitat
Zum Beispiel die Schweizer oder die Norweger Variante. Leicht unterschiedlich, aber mit vernünftigen und für beide Seiten akzeptablen Regelungen.


Da lachen die Hühner noch lauter. Das wäre vielleicht für eine Seite "vernünftig und akzeptabel", aber für die zweite natürlich nicht. Schweiz und Norwegen haben nur keine echte Alternative und müssen sich der Macht der EU beugen. Fair wird es dadurch nicht, was man ja auch durchaus sieht, wenn man betrachtet wie die EU mit der Schweiz umgeht. Einen solchen "weichen" Brexit wird es mit aller Sicherheit nicht geben. Das wäre aber auch nicht weich, das wäre eine Bankrotterklärung. Oder eher eine Kapitulation.

Zitat
Sie hat ja die Neuwahlen explizit damit begründet, sie bräuchte ein klares Mandat.


Das kann sie tun. Ändert aber nichts daran, dass der Regierungschef ein Verhandlungsmandat hat. Egal wie das aussieht.

Zitat
Auf jeden Fall: Sie kann und wird jetzt versuchen zu verhandeln. Aber ob sie im Parlament jemals eine Mehrheit dafür bekommt, das ist ziemlich offen.


Und ziemlich unwichtig. Das ist beileibe der einzige Vorteil des Exit-Procederes, es hat ein Eigenleben, dass keine Zustimmung mehr braucht. Wenn es keine Zustimmung zu einem wie auch immer gearteten Vertrag gibt, dann kommt der eben nicht zustande. Der Brexit kommt trotzdem im April 2019. Real gesehen ist das nicht einmal besonders wichtig, die Vertragsvorstellungen der EU sind ohnehin für die Briten nicht annehmbar. Es wird so oder so knallen. Und es wird eine Menge deutsche Arbeitsplätze kosten. Ich kann mir vorstellen, dass manchem noch das Grinsen vergehen wird, wenn er feststellt, dass es ihm unterm Strich überhaupt nichts nützt, dass es den Briten jetzt noch schlechter geht. Denn da hat man nix von. Aber einen Job hat man trotzdem nicht mehr.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

09.06.2017 22:35
#210 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von Emulgator im Beitrag #207
Zitat von Fluminist im Beitrag #204
Das Anfang dieses Jahres im Parlament beschlossene Gesetz tut's aber auch nicht, denn dieses ermächtigt nur den Premierminister die Erklärung nach Art. 50 abzugeben, ohne eine Entscheidung in der Substanz dieser Erklärung zu fällen. Es klärt nur den Verwaltungsvorgang, nicht dessen Grundlage.
Das verstehe ich nicht. Was ist an diesem Brief unzureichend?

Daß der Brief insofern unsachlich ist, als er viel zu viel heißen Brei mitliefert, der nichts zur Sache tut, wäre zu bemängeln, aber das lassen wir mal beiseite.

Was das von mir angesprochene Argument betrifft, so kann man in dem Brief selbst sehen, daß May sich nur auf Art. 50(2), also die Benachrichtigung, bezieht und Art. 50(1) nicht anspricht.

Zitat
1. Any Member State may decide to withdraw from the Union in accordance with its own constitutional requirements.


In dem Brief wird nicht explizit festgestellt, aber impliziert, daß diese Entscheidung des Mitgliedsstaats UK gemäß seiner Verfassungsordnung gefallen sei ("confirmed the result of the referendum" deutet mehr an als der Parlamentsakt hergibt). Das ist aber, wie ich erläutert habe, gar nicht der Fall. Die Verfassung des UK erfordert einen Parlamentsakt oder die Delegation der Entscheidung an ein Referendum per Parlamentsakt. Letzteres war explizit nicht der Fall, und einen Parlamentsbeschluß des Wortlauts "das Parlament beschließt den Austritt des UK aus der EU" (oder äquivalent) gibt es bis heute nicht. Also liegt die Voraussetzung des Art. 50(1) nicht vor. Mays Brief an Tusk ist mithin ein politisches Thesenpapier, keine rechtmäßige Erklärung.

Nebenbei bemerkt gibt es für den im Brief ebenfalls erklärten Austritt aus Euratom nicht die geringste rechtlich oder politische Grundlage. Euratom ist keine EU-Organisation und ist daher selbst bei großzügiger Auslegung nicht im Fragetext des Referendums inbegriffen. Ein Parlamentsbeschluß bezüglich Euratom liegt ebenfalls nicht vor.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

09.06.2017 22:41
#211 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von Llarian im Beitrag #209
Zitat von R.A. im Beitrag #198
Wenn sich die Verhältnisse ändern, kann man ein Referendumsergebnis ähnlich durch ein neues Ergebnis ersetzen wie man ein Wahlergebnis durch ein neues ersetzt.

Nur haben sich die Verhältnisse nicht geändert. Jetzt neu zu refferendieren entspricht genau dem: Wählen bis das Ergebnis passt.

So eng würde ich das nicht sehen. Es hat ja (meines Wissens jedenfalls) niemand vorgeschlagen, das Cameronsche Referendum mit seiner dämlichen Fragestellung zu wiederholen. Während jenes Referendum nur die Ja/Nein-Frage stellte, also einen Auftrag an die Regierung stellte, die Möglichkeit eines EU-Austritts zu prüfen, ginge es bei einem erneuten Referendum um eine konkretere Sache: "Hier ist die konkrete, als möglich erkannte und in ihren positiven und negativen Wirkungen zumindest grob abgeschätzte Alternative zur EU-Mitgliedschaft. Sollen wir diese durchführen oder nicht?"
Das hat mit "referendieren bis das Ergebnis paßt" nichts zu tun, sondern eher damit, dem Wähler eine informierte Entscheidung möglich zu machen.

Llarian Offline



Beiträge: 7.107

09.06.2017 23:04
#212 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #211
So eng würde ich das nicht sehen. Es hat ja (meines Wissens jedenfalls) niemand vorgeschlagen, das Cameronsche Referendum mit seiner dämlichen Fragestellung zu wiederholen. Während jenes Referendum nur die Ja/Nein-Frage stellte, also einen Auftrag an die Regierung stellte, die Möglichkeit eines EU-Austritts zu prüfen, ginge es bei einem erneuten Referendum um eine konkretere Sache: "Hier ist die konkrete, als möglich erkannte und in ihren positiven und negativen Wirkungen zumindest grob abgeschätzte Alternative zur EU-Mitgliedschaft. Sollen wir diese durchführen oder nicht?"
Das hat mit "referendieren bis das Ergebnis paßt" nichts zu tun, sondern eher damit, dem Wähler eine informierte Entscheidung möglich zu machen.

Natürlich. Und informierte Entscheidung klingt auch super. Aber stellen wir uns mal die ganz dumme Frage:
Wenn das Referendum anders ausgegangen wäre und die UKIP heute argumentieren würde: "Ja, so eine ja/nein Frage ist ja viel zu uninformiert. Wir sollten doch lieber erst einen Antrag bei der EU stellen und dann das Ergebnis zur Verhandlung stellen." Kann sich jemand vorstellen, dass wir auch nur ernsthaft darüber reden würden? Kann sich jemand vorstellen, dass man sich nicht EU-weit rauf und runter über die UKIP lustig machen würde und sie dringend daran erinnern würde, dass man sich doch bitte mit dem Ergebnis des Referendums abfinden solle?

Seien wir einen Moment mal ehrlich: Der Ausgang des Referendums ist doch nichts weiter als ein Riesenbetriebsunfall, der genau anders herum geplant war. Die Abstimmung sollte vor allem dazu dienen den Unabhängigskeitsforderern ein für allemal den Wind aus den Segeln zu nehmen. Und wäre das passiert würde da heute kein Hahn nach krähen und jeder, der ein neues Referendum fordern würde, würde sich dezent lächerlich machen. Und gerade in unserem kleinen Zimmer, wo Boris Johnson ja bekanntlich von einigen als ein direkter Wiedergänger des Leibhaftigen gehandelt wird, würde man sich doch an Witzen gegenseitig überbieten, dass es Leute gibt, die einfach nicht verlieren können und die Demokratie wohl nie begreifen werden.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

10.06.2017 10:25
#213 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von Publius im Beitrag #205
Und Sie meinen, lieber R. A., dass durch ein anderes Wahlsystem, wie z.B. das Verhältniswahlrecht, die Regierungsbildung in Großbritannien erleichtert wird?

Nicht direkt. Die Wahlen haben keine klare Mehrheit für einen Partei gebracht, und dann sollte das Wahlsystem auch keine herstellen.
Aber mit einem modernen Wahlsystem wären erstens die Wahlergebnisse nicht so gewürfelt (die Mandatsverteilung ist in Ergebnis und Veränderung ja immer noch grob verzerrt) und zweitens wäre schon vorher klar, daß Koalitionen nötig sein werden, um eine Regierung zu bilden.
Hauptproblem derzeit ist m. E. die durch das alte Wahlsystem verursachte psychologische Borniertheit bei Wählern und Politikern, die mit Kompromissen zwischen verschiedenen politischen Standpunkten nicht umgehen können.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

10.06.2017 10:28
#214 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #202
Was Schottland betrifft, muß ich überrascht zugestehen, daß ich das falsch eingeschätzt habe.

Der Grund für diese Fehleinschätzung findet sich hier.

Die schottischen Tories haben sich in den letzten Jahren und insbesondere seit dem Referendum stark von der Londoner Zentrale distanziert und fahren einen ganz anderen Brexit-Kurs als May (im Prinzip "soft brexit").
Wie das übrigens auch die DUP macht - für ihren hard brexit hat May eigentlich überhaupt keine Basis mehr im Parlament.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

10.06.2017 10:33
#215 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von Llarian im Beitrag #212
Wenn das Referendum anders ausgegangen wäre und die UKIP heute argumentieren würde: "Ja, so eine ja/nein Frage ist ja viel zu uninformiert. Wir sollten doch lieber erst einen Antrag bei der EU stellen und dann das Ergebnis zur Verhandlung stellen." Kann sich jemand vorstellen, dass wir auch nur ernsthaft darüber reden würden?

Das wäre in der Tat ein lächerlicher Vorschlag und würde entsprechende Reaktionen finden.

Der entscheidende Unterschied zu einem zweiten Referendum über Verhandlungsergebnisse wäre: Es hätte sich überhaupt beim UKIP-Vorschlag ja überhaupt nichts geändert, was eine neue Abstimmung sinnvoll machen würde.

Wenn sie diese Variante schon von Anfang an vorgeschlagen hätte, wäre das diskussionswürdig gewesen. Hat sie aber nicht.
Sie wollte genau nur das Referendum, wie es Cameron durchgeführt hat. Mit einem simplen Raus vs. Rein. Ohne "erst verhandeln und dann prüfen".
Wenn man so ein Referendum verliert, kann man nicht kurz darauf die schlichte Wiederholung fordern.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

10.06.2017 10:51
#216 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von Llarian im Beitrag #209
Nur haben sich die Verhältnisse nicht geändert.

Noch nicht. Hat ja auch keiner gefordert, nächsten Sonntag neu abzustimmen.
Aber wenn nach gehabten Verhandlungen (und parallel Auslotung von Alternativen wie Handelsabkommen mit anderen Ländern etc.) konkret definiert ist, wie Brexit wirklich aussieht, dann gibt es deutlich geänderte Verhältnisse und eine Abstimmung über das Verhandlungsergebnis (und das Scheitern von Verhandlungen wäre auch eins) durchaus legitim und sinnvoll.

Zitat
Und das kann man auch jedes Jahr neu machen.


Nein. Nur dann, wenn es wirklich eine neue Lage gibt.

Siehe auch Schottland-Referendum. Grundsätzlich ist die Sache entschieden. Eine neue Abstimmung unter unveränderten Rahmenbedingungen wäre nicht legitim.
Aber nach Brexit wären die Rahmenbedingungen so verändert, daß auch eine neue Schottland-Abstimmung legitim und sinnvoll wäre.

Zitat
Die Briten stellen nahezu keine Forderungen, mal ab davon, dass sie gerne im Binnenmarkt bleiben würden.


Hast Du mal mitbekommen, was May und Co so alles erzählen? Natürlich stellen sie Forderungen, und zwar ganz heftige (und völlig realitätsferne). Und genau den Binnenmarkt will May ja nicht mehr - exakt das in der Hauptdissens zwischen ihrer Linie und z. B. DUP und den schottischen Tories (siehe Link im Beitrag von eben).

Zitat
Forderungen stellt vor allem Brüssel


Brüssel hat bisher nur in einem Bereich etwas "gefordert", und das ist die schlicht selbstverständliche korrekte Abrechnung der bisher eingegangenen Finanzverpflichtungen.
Ansonsten hat Brüssel überhaupt nichts gefordert, weil Brüssel ja überhaupt keine Änderung will.
Es ist GB, daß einen anderen Zustand haben will und fordert, und deswegen müßte May das auch konkretisieren. Was sie bisher nur teilweise gemacht hat.

Zitat
Weder Juncker noch seine Eurokratie kann sich einen "weichen" Brexit leisten.


Das ist reine Spekulation und ziemlich unbelegt.
Klar ist auf jeden Fall: Wenn die Briten einen weichen Brexit nach dem Vorbild der Schweiz oder Norwegens wollen, dann kann Juncker ihnen das überhaupt nicht verweigern. Also wäre es auch ziemlich sinnlos, ihnen einen andere Variante zu verweigern.

Zitat
Schweiz und Norwegen haben nur keine echte Alternative und müssen sich der Macht der EU beugen.


Die Schweiz konnte auch vor den Vereinbarungen mit der EU gut leben, und ist diese Vereinbarungen eingegangen, weil sie davon handfeste Vorteile hatte.
Und Norwegen hätte viel mehr echte Alternativen als GB, weil Norwegen sein Geld mit Öl verdient und nicht mit genau den Service für den EU-Raum, die May gerade abwürgen will.
Beide Staaten haben das ausverhandelt und freiwillig unterzeichnet, und es gab weder von Schweizer noch Norweger Seite jemals Beschwerden, die EU hätte sich unfair verhalten. Im Gegenteil, gerade die Schweiz hat sich über die Vereinbarungen hinaus noch an vielen EU-Unternehmungen freiwillig beteiligt.

Zitat
Fair wird es dadurch nicht, was man ja auch durchaus sieht, wenn man betrachtet wie die EU mit der Schweiz umgeht.


Das sind völlig aus der Luft gegriffene Spekulationen, die Du da bringst. Die Kavallerie-Visionen mancher deutscher Politiker sind NICHT kennzeichnend für den Stil der Eurokraten. Die sind es nämlich im Gegensatz zur deutschen Außenpolitik gewohnt, mit den Interessen kleiner Länder rücksichtsvoll umzugehen.

Zitat
Einen solchen "weichen" brexit wird es mit aller Sicherheit nicht geben.


Abwarten. May will ihn nicht, aber Stand heute will eine Mehrheit im Parlament den weichen brexit.

Zitat
Wenn es keine Zustimmung zu einem wie auch immer gearteten Vertrag gibt, dann kommt der eben nicht zustande. Der Brexit kommt trotzdem im April 2019.


Das ist nicht gesagt.
Wenn May in den nächsten zwei Jahren keinen Vertrag zustande kriegt, dann ist es durchaus möglich, daß sie im Parlament abgesägt wird. Und dann die Rücknahme des Austrittsgesuchs eine Mehrheit kriegt.
Weil ein Chaos-Exit ohne jegliche vertragliche Absicherung eine Katastrophe für GB wäre.

Zitat
dass manchem noch das Grinsen vergehen wird, wenn er feststellt, dass es ihm unterm Strich überhaupt nichts nützt, dass es den Briten jetzt noch schlechter geht.


Die Einzigen, die in dieser Frage jemals gegrinst haben, sind Farage und seine Spießgesellen. Ansonsten sehe ich niemand grinsen.
Und ja, wenn May die Kiste richtig an die Wand fährt, würde das auch deutsche Arbeitsplätze kosten. Aber wir haben das nicht in der Hand.

Dennis the Menace Offline




Beiträge: 459

10.06.2017 11:07
#217 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von Frankenstein im Beitrag #200
Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #145
Gibt es: Er ist völlig verrückt ...


......



Gut, dass Corbyn hier nicht mitliest und meine Expertise nicht übernommen hat; 30 Sitze dazugewonnen . Aber ich hab 'ne Ausrede : Man muss verrückt und nicht beamtenhaft oder gar mathematisch denken, wenn man Erfolg haben will, alle bedeutenden Unternehmer beweisen das. Er hat sich auf Mays Pokerspiel eingelassen und im Gegensatz zu meiner Annahme hat sich May dabei verzockt. In der Politik spielt halt FORTUNE immer eine allgemein unterschätzte Rolle.

Und bei Polit-Prognosen ist es immer günstig, wenn man später nicht mehr dran erinnert wird. 

lich Dennis

Llarian Offline



Beiträge: 7.107

10.06.2017 11:59
#218 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #216
Nein. Nur dann, wenn es wirklich eine neue Lage gibt.

Das ist am Ende immer eine Frage der Argumentation, und das weisst Du auch. Die Lage eines Landes ändert sich jedes Jahr, permanent. Und ganz simpel: Wenn die UKIP die Abstimmung verloren hätte, und dieses Jahr die Schotten sich losgesagt hätten (eine wohl recht eindeutig neue Lage), würden wir dann auch nur in die Nähe einer neuen Brexit-Abstimmung kommen? Oder würde man UKIP auslachen?
Und das ist es, was ich meine: So lange es in die eine Seite geht (neue Abstimmung bis es passt), so lange wird man immer und immer wieder neue Lageänderungen finden, sei es, weil man nun ein anderes Verhandlungsergebnis habe, weil die Regierung schwächer werde, weil die Flüchtlingskrise überwunden sei, weil sich die Machtverhältnisse in Europa geändert haben, im Endeffekt schon weil wir anderes Wetter haben. Aber im umgekehrten Falle würden wir in 10 Jahren keine neue Abstimmung sehen. Und genau das ist es, was ich so scheinheilig finde. Es ist nicht der Modus, es ist das Ergebnis, das nicht passt.

Zitat
Hast Du mal mitbekommen, was May und Co so alles erzählen? Natürlich stellen sie Forderungen, und zwar ganz heftige (und völlig realitätsferne).


Dann zeig mal wo May, als die einzig Berechtigte, solche Forderungen offiziell erhoben hat!

Zitat

Zitat
Weder Juncker noch seine Eurokratie kann sich einen "weichen" Brexit leisten.


Das ist reine Spekulation und ziemlich unbelegt.



Das ist nahezu trivial. Es sind eine Menge Länder unzufrieden mit dem, wo sich die EU hin bewegt (was ja auch der Grund ist, warum man Referenden vermeidet wie der Teufel das Weihwasser). Wenn nun ein Land erfolgreich austräte und demonstrierte, dass es ohne Brüssel geht, was würde passieren? Und was würde das für die Eurokratie bedeuten? Juncker wäre der offizielle Nachlassverwalter der EU. Und das bei einem Mann, der davon träumt den ganzen Kontinent zu regieren. Das ist nicht spekulativ, das ist offenkundig.

Zitat
Die Schweiz konnte auch vor den Vereinbarungen mit der EU gut leben, und ist diese Vereinbarungen eingegangen, weil sie davon handfeste Vorteile hatte.


Oh, das haben wir ja bei der Einwanderungs-Abstimmung gesehen. Die EU hat ihr hässliches Gesicht recht trefflich gezeigt und die Schweizer sehen das nicht als allzu "vorteilhaft" wie mit ihnen umgegangen wurde. Die Schweiz hat nur, im Unterschied zum UK, nicht ansatzweise die Möglichkeit sich dagegen zu stemmen. Aber das ist gute Miene zum bösen Spiel, nicht mehr.

Zitat
Das ist nicht gesagt.
Wenn May in den nächsten zwei Jahren keinen Vertrag zustande kriegt, dann ist es durchaus möglich, daß sie im Parlament abgesägt wird. Und dann die Rücknahme des Austrittsgesuchs eine Mehrheit kriegt.


Eine solche Rücknahme ist nicht vorgesehen und findet sich auch nicht im Vertragstext. Außerdem glaube ich nicht, dass die Parlamentarier so geneigt sind politischen Selbstmord zu begehen. Die Briten mögen in der Frage selber gespalten sein, halten aber ihren Willen für wichtig. Wird dieser ignoriert, dann wird auch das Argument von "neuer Situation" nicht viel bringen. Es hat schon seinen Grund warum selbst Labour auf den Brexit Zug aufgesprungen ist. Weil die nämlich nicht in Grund und Boden untergehen wollten. So wie beispielsweise die SNP.

Zitat
Weil ein Chaos-Exit ohne jegliche vertragliche Absicherung eine Katastrophe für GB wäre.


Und der Himmel wird uns auf den Kopf fallen. Das hat schon bei der Brexit-Abstimmung nicht funktioniert. Ich finde diese Kassandra Rufe auch zunehmend langweilig: Das war schon bei Trump der Fall und die Sonne geht auch über den Staaten noch auf. Das war auch der Fall, als die eigentliche Abstimmung kam und auch da ist nicht wirklich viel passiert. Oder wie die Engländer sagen würden: Abwarten und Tee trinken.

Zitat
Die Einzigen, die in dieser Frage jemals gegrinst haben, sind Farage und seine Spießgesellen. Ansonsten sehe ich niemand grinsen.
Und ja, wenn May die Kiste richtig an die Wand fährt, würde das auch deutsche Arbeitsplätze kosten. Aber wir haben das nicht in der Hand.


Aber hallo haben wir. Und das ist eigentlich der schlimmste Aspekt unter dem ganzen Driss: Es wäre für die Deutschen selber von allergrößtem Vorteil nicht nur sich mit dem Brexit abzufinden, sondern ein möglichst gutes Handesabkommen mit dem UK anzustreben. "Die Deutschen" haben keine großen Vorteile aus der Freizügigkeit der ganzen EU, als deutscher Arbeiter wäre man im UK nach wie vor hochwillkommen, das war schon vor der EU der Fall. Und ein gegenseitiger Freihandel würde die Arbeitsplätze erhalten, von denen wir hier sprechen. Der UK ist einer der wichtigsten Handelspartner von Deutschland, es kann nur im deutschen Interesse liegen ihn sowohl möglichst stark zu erhalten, wie auch möglichst wenig Handelshemmnisse mit ihm zu haben.
Aber deutsche Politiker vertreten in dieser Frage schon lange nicht mehr "die Deutschen" sondern Europa. Und das Interesse der Eurokraten ist dem diamteral entgegengesetzt (siehe oben). Simpel gesagt: "Wir" haben es total in der Hand. Aber "wir" sind mehr daran interessiert den Interessen von Europa (oder eher seiner Nomunklatur") zu dienen als den eigenen Interessen. May hat in dieser Frage genau gar nichts beizutragen. Es liegt einzig in der Hand der europäischen Verhandlungspartner. Und deren Ziel ist gesetzt. Es liegt einzig(!) in "unserer" Hand. Dummerweise hat diese Hand nicht unsere Interessen im Blick.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

10.06.2017 12:24
#219 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von TF im Beitrag #201
Es ist doch ganz einfach: Konservative (318 oder 319 Sitze)+DUP (10)+Speaker ...

Ich vermute mal, daß May auch so gerechnet hat, aber einfache Arithmetik ist hierbei nicht alles. Mays neue Freunde sind ziemlich exakt das Gegenstück zu Sinn Féin - der politische Arm einer seinerseits sehr aktiven Terrorgruppe.
Bei all dem Brexit-Gedaddel ist etwas in den Nachrichten untergegangen, daß die nordirische Versammlung und devolvierte Regierung seit 3 Monaten suspendiert sind; wieder einmal, kann man sagen, denn im Gegensatz zu den stabilen devolvierten Parlamenten und Regierungen von Schottland und Wales ist Stormont seit jeher on and off. Auslöser der derzeitigen Auflösung war ein Skandal, in den die DUP verwickelt ist und den Sinn Féin liebevoll aufbereitet und zum Anlaß zu Stonk genommen hat. Nordirland befindet sich derzeit also wieder einmal in einer metastabilen Situation, bildlich gesprochen ein Pulverfaß.

In dieser Lage legt nun May mit ihrer DUP-Koalition die Axt an das zweite Standbein des Good Friday Agreements; das erste, nämlich der Status sowohl des UK als auch der Republik Irland als EU-Mitglieder, die u.a. die Autorität des Europäischen Gerichtshofs anerkennen, wurde durch den Brexit als solchen in Frage gestellt (bzw., wenn dieser stattfindet, abgehackt). Dieses zweite Standbein ist die Neutralität der UK-Regierung in Fragen, die Nordirland betreffen, da sie auch als Mediator zwischen den beiden Seiten agieren soll. Diese Neutralität ist sehr in Frage gestellt (und wird jedenfalls gewiß bei der nachsten Gelegenheit von Sinn Féin in Frage gestellt werden), wenn diese Regierung sich auf eine Koalition mit der extremsten Partei einer dieser Seiten stützt.

May hat also, vermutlich ohne Absicht, sondern aus bloßer Fahrlässigkeit, gerade zum zweiten Mal ein großes Loch ins Good Friday Agreement geschossen und damit potentiell den Frieden in Nordirland nachhaltig gefährdet. Beim ersten Mal war es die bloße Faulheit, sich mit einer Frage, die das Bild vom simplen Ruckzuck-Brexit trübt, auseinanderzusetzen; beim zweiten Mal der verzweifelte Schnellkalkül einer Premierministerin, die sich mit dem Ansetzen einer völlig unnötigen Neuwahl massivst verzockt hat und dennoch ihre Position mit allen Mitteln halten will.

Florian Online



Beiträge: 3.170

10.06.2017 15:06
#220 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von Llarian im Beitrag #209
Schweiz und Norwegen haben nur keine echte Alternative und müssen sich der Macht der EU beugen.



Doch natürlich haben sie eine Alternative:
Keine Macht der Welt zwingt sie, mit der EU irgendwelche Abkommen zu schließen.
Die Schweiz könnte auch ohne irgendwelche Verträge mit der EU existieren. Die Beziehungen Schweiz-EU würden dann wie zwischen "normalen" OECD-Mitgliedern geregelt. Etwa so wie zwischen Kanada und Japan. Das sind auch befreundete Staaten die wunderbar nebeneinander her leben und zwischen denen auch Handel und sonstiger Austausch möglich ist. Allerdings natürlich komplizierter und aufwändiger als derzeit zwischen Schweiz und EU.

Nur: Diese Alternative wäre für die Schweiz deutlich schlechter als das, was sie aktuell mit der EU vereinbart hat.
(In soweit haben sie natürlich recht, dass dies für die Schweiz faktisch "keine Alternative" wäre.)

Mir ist aber nun nicht ganz klar, welchen Vorwurf man da der EU machen will:
Sie bietet der Schweiz einen Deal an, der so viel besser ist als die denkbare Alternative "OECD-Ausland", dass letzteres faktisch eben keine Alternative ist. Die Schweiz muss sich hier aber nicht "der Macht der EU beugen". Sondern vielmehr profitiert sie von einem Deal mit der EU in einem so hohen Maße, dass sie diesen Deal unbedingt machen MÖCHTE.

Llarian Offline



Beiträge: 7.107

10.06.2017 15:49
#221 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von Florian im Beitrag #220
Keine Macht der Welt zwingt sie, mit der EU irgendwelche Abkommen zu schließen.
Die Schweiz könnte auch ohne irgendwelche Verträge mit der EU existieren. Die Beziehungen Schweiz-EU würden dann wie zwischen "normalen" OECD-Mitgliedern geregelt. Etwa so wie zwischen Kanada und Japan. Das sind auch befreundete Staaten die wunderbar nebeneinander her leben und zwischen denen auch Handel und sonstiger Austausch möglich ist. Allerdings natürlich komplizierter und aufwändiger als derzeit zwischen Schweiz und EU.

Es wird auch niemand gezwungen mit seinem örtlichen Versorger einen Stromlieferungsvertrag abzuschliessen. Alleine, es ist ziemlich schwierig ohne. Die Schweiz ist, auch im Unterschied zu Japan oder Kanada, von der EU umgeben. Ohne Verträge mit der EU wäre sie nicht einmal in der Lage eine Tafel Schokolade ins Ausland zu verkaufen. Und das sich beide Seiten dessen durchaus bewusst sind, wurde sehr eindrucksvoll bewiesen, als die Eidgenossen per direkter Demokratie entschieden, dass sie eben doch noch kontrollieren wollen, wer bei ihnen zuzieht und wer nicht. Da war ganz schnell die Rede von Überflugsverboten oder Stromsperren. Die EU kann der Schweiz in weniger als einem Monat die Luft abdrücken, und das ganz wortwörtlich. Und ja, man ist unter diesen Umständen natürlich nicht gezwungen einen Vertrag zu schliessen, aber er erleichtert das Leben ungemein.

Zitat
Sie bietet der Schweiz einen Deal an, der so viel besser ist als die denkbare Alternative "OECD-Ausland", dass letzteres faktisch eben keine Alternative ist. Die Schweiz muss sich hier aber nicht "der Macht der EU beugen". Sondern vielmehr profitiert sie von einem Deal mit der EU in einem so hohen Maße, dass sie diesen Deal unbedingt machen MÖCHTE.


Genauso argumentiert jeder Monopolist auf dem Markt, der nur ausreichend Macht aufbauen kann (beispielsweise Microschuft, Apfel oder auch AT&T (als es den Laden noch gab)): Man biete doch ein gutes Angebot an, und jedem stehe es frei dieses anzunehmen oder abzulehnen. In jedem Falle sei der Annehmer doch besser gestellt, denn er habe ja die Wahl auch nein zu sagen. Als Marktwirtschaft haben wir erkannt wie schädlich solche Monopole sind und achten darauf, dass solche entweder gar nicht erst entstehen oder zerschlagen werden, so diese auftreten. Aber für Staatenbünde gilt das ganze dann seltsamerweise nicht mehr: Wenn die OPEC ein Kartell bildet, dann ist doch jedem immer noch frei gestellt, ob er Öl kauft oder nicht. Und wenn China die Ausfuhr seltener Erden verbietet, kann doch jeder immer noch in China produzieren. Und wenn die EU den Marktzugang monopolisiert, ist doch jeder frei woanders zu verkaufen. Klingt alles immer furchtbar frei. Ist es nur eben nicht. Wenn Donald Trump sich hinstellt und Handelsvertäge aufkündigt, weil er erkannt hat, dass eine große Wirtschaftsmacht in Einzelverträgen viel mehr Druck ausüben kann, als in freiem Handel, dann ist das plötzlich alles pfui bah. Wenn die EU das aber macht, dann ist das okay. Es mag ein Monopol sein, aber wenigstens ist es unseres. Es ist ja keiner gezwungen seine Waren in Europa zu verkaufen.

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

10.06.2017 16:54
#222 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von Llarian im Beitrag #221
Aber für Staatenbünde gilt das ganze dann seltsamerweise nicht mehr:
Ja, stimmt für Staaten gelten andere Regel. Was man zwischenmenschlich Diebstahl nennt, heißt beim Staat Steuererhebung. Was man zwischenmenschlich Rache nennt, heißt beim Staat präventiver Strafzweck. Was zwischenmenschlich Wucher oder Erpressung heißt, heißt bei Staaten starke Verhandlungsposition. Damit muß man leben.

Eine Motivation zur Gründung der EWG/EG/EU war ja auch die "starke Verhandlungsposition" der USA und der UdSSR, der sich die Gründerstaaten ausgesetzt sahen. Natürlich hat man gemeinsam allgemein eine stärkere Position, nicht nur gegenüber den USA oder Rußland sondern auch gegenüber Schweiz, Norwegen, Island usw. Das gute im Vergleich zur Erpressung aus Moskau oder Washington ist, daß gegenüber der EU die europäischen Nichtmitglieder wesentlich mehr Freiheitsgrade behalten: Sie können mit der EU jeweils alleine ein Abkommen aushandeln, sie können sich ihrerseits gegenüber der EU zusammenschließen (multilaterale Lösung), jedes europäische Land kann eigenständig der EU beitreten (Beitrittslösung) und man kann sich für die "kalte Schulter" entscheiden. In Beziehung auf die USA eines Trump fallen ja die multilaterale Lösung und die Beitrittslösung weg.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

10.06.2017 20:05
#223 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von Llarian im Beitrag #218
Das ist am Ende immer eine Frage der Argumentation, und das weisst Du auch.

Selbstverständlich. Die Angemessenheit eines Referendums ist immer eine politische Beurteilung, genau wie z. B. die Angemessenheit eines Politikerrücktritts. Da gibt es kein digitales immer richtig oder immer falsch.

Je nach Rahmenbedingungen ist eine Referendumswiederholung manchmal gerechtfertigt und manchmal eben nicht. Das muß man politisch ausdiskutieren.

Zitat
Dann zeig mal wo May, als die einzig Berechtigte, solche Forderungen offiziell erhoben hat!


Na ja, ein Teil des Problems ist ja, daß May sich offiziell nicht festlegt.
Es geht also nicht um "offizielle Forderungen", sondern um die Vorstellungen, mit der die britische Regierung in die Verhandlungen geht. Und die einen Erfolg dieser Verhandlungen nicht so wahrscheinlich machen.

Man nehme da nur die abenteuerliche Vorstellung, daß GB bei einem Austritt die bis dahin eingegangenen Verpflichtungen gegenüber den Partnern nicht mehr erfüllen müßte ("we can walk away and pay nothing").
Natürlich muß man die Berechnung dieser Verpflichtungen durch die EU-Kommission nicht 1:1 glauben. Natürlich wird GB eine eigene Rechnung machen und dagegen stellen. Und dann wird halt darüber geredet.
Aber die grundsätzliche Berechtigung dieser Forderungen sollte unter normalen Vertragspartnern unstrittig sein. Es ist selbst in konservativen City-Kreisen auf Fassungslosigkeit gestoßen, daß eine britische Regierung tatsächlich öffentlich erklärt, ihren Finanzverpflichtungen nicht mehr nachkommen zu wollen.
Es belastet natürlich die Erfolgschancen von Verhandlungen erheblich, wenn ein Partner vorher erklärt, daß er die bisherigen Vereinbarungen nicht mehr einhalten will.

Zitat
Es sind eine Menge Länder unzufrieden mit dem, wo sich die EU hin bewegt ...


Nicht wirklich. Wilders ist gescheitert, Le Pen ist gescheitert, die AfD murkst in ihrer Nische rum - EU-Austritt ist kein echtes Thema in irgendeinem EU-Land. Auch Polen oder Ungarn streiten sich zwar über einzelne Punkte sehr heftig, denken aber überhaupt nicht an Austritt.

Zitat
Wenn nun ein Land erfolgreich austräte und demonstrierte, dass es ohne Brüssel geht,...


Dann würde das nichts Neues bringen. Es gibt eine ganze Reihe europäischer Länder, die nicht EU-Mitglied sind. Es ist also bewiesene Tatsache, daß es ohne Brüssel geht. Mit mehr oder weniger Erfolg. Aber ein GB außerhalb der EU würde da keine neuen Erkenntnisse bringen.

Zitat
Oh, das haben wir ja bei der Einwanderungs-Abstimmung gesehen.


Was exakt meinst Du? Mir ist nicht bewußt, daß die EU und die Schweiz wegen der Einwanderungsfrage Verhandlungen geführt hätten.

Zitat
Eine solche Rücknahme ist nicht vorgesehen und findet sich auch nicht im Vertragstext.


GB kann den Austrittsantrag nicht einseitig zurücknehmen - aber selbstverständlich geht das, wenn beide Seiten im Konsens das so wollen. Das ist immer so bei Verträgen, im Konsens geht alles.
Und die EU wird sich einer solchen Rücknahme nicht verweigern.

Zitat
Außerdem glaube ich nicht, dass die Parlamentarier so geneigt sind politischen Selbstmord zu begehen.

Zitat

Es hängt alleine vom Verhandlungsergebnis ab, ob die Zustimmung oder die Austrittsrücknahme der Selbstmord wäre.

Zitat:Ich finde diese Kassandra Rufe auch zunehmend langweilig: Das war schon bei Trump der Fall und die Sonne geht auch über den Staaten noch auf.


Ich würde jetzt die Panik-Vorstellungen linker Spinner nicht auf eine Stufe stellen mit den begründeten Bedenken von Wirtschaftsexperten. Und speziell die britischen Wirtschaftsleute sehen das nicht mit der Geruhsamkeit eines deutschen EU-Gegners, der in erster Linie mal Brüssel scheitern sehen möchte.

Wohlgemerkt: Es ging hier nicht um den Brexit an sich, sondern um eine spezielle Variante. Nämlich ein komplettes Scheitern der Verhandlungen, so daß es nicht nur zu einem "hard brexit" kommt (also Ausscheiden aus dem Binnenmarkt) ohne Ersatz durch einen neuen Vertrag, sondern um einen Ausgang, in dem überhaupt nichts geregelt ist. Keine Übergangslösungen, keine Klärung der Anerkennung von Rechtstiteln, keine Regelung der offenen Finanzfragen. Wenn nicht einmal eine minimale Regelung gefunden wird (die dann durchs Parlament müßte), das wäre der GAU für das UK.

Zitat
Es wäre für die Deutschen selber von allergrößtem Vorteil nicht nur sich mit dem Brexit abzufinden, sondern ein möglichst gutes Handesabkommen mit dem UK anzustreben.


So viel brauchen wir da gar nicht. Wir wollen Waren verkaufen, nicht Dienstleistungen. Der schlimmstmögliche Fall wäre das Zurückfallen auf die WTO-Regeln. Damit kann man noch prima Autos verkaufen (wir verkaufen die weltweit in viele Länder mit relativ wenig Handelsabkommen).
Die größte Gefahr für den deutschen Export nach GB ist nicht, daß wir keinen Binnenmarkt mehr hätten. Die größte Gefahr wäre, daß die Kunden sich keine deutschen Waren mehr leisten können - denn ohne die in den EU-Binnenmarkt verkauften Dienstleistungen hat GB kein Geld mehr für BMWs.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

14.06.2017 17:08
#224 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Es wird interessant:

Bei den Tories formieren sich die EU-Gegner, um May auf dem "hard brexit"-Kurs zu halten:
https://www.ft.com/content/2ae7737c-4e9e...f2-db19572361bb

Aber das dürfte nicht reichen, die EU-Gegner sind weiterhin nur eine Minderheit im Parlament.

Auf der Gegenseite besprechen andere Tories mit Labour den "soft brexit":
http://www.telegraph.co.uk/news/2017/06/...re-soft-brexit/

Wie er auch von der DUP gefordert wird:
https://www.ft.com/content/49201a76-4ea6...b8-997009366969

Nach den bisherigen Erfahrungen wäre es keine gute Idee darauf zu wetten, was die Briten am Ende wirklich machen werden

Aber das Norwegen-Modell scheint derzeit die wahrscheinlichste Variante zu sein.

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

14.06.2017 17:46
#225 RE: Bottom up oder top down? Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #224
Bei den Tories formieren sich die EU-Gegner, um May auf dem "hard brexit"-Kurs zu halten:
https://www.ft.com/content/2ae7737c-4e9e...f2-db19572361bb

Nebenbei eine interessante Entwicklung der Ideen: Ursprünglich war der harte Brexit ja nur ein Notnagel in den Verhandlungen, damit man von der EU nicht über den Tisch gezogen werde. Die Brexit-Apologeten warben noch vor dem Referendum, man könne den Zugang zum EU-Binnenmarkt auch ohne EU-Mitgliedschaft behalten. Nun strebt die PM an, genau auf diesen Zugang freiwillig zu verzichten. Das ist völlig verrückt.

Derweil wurden die Verhandlungen um die Duldung durch die DUP und der Zusammentritt des neuen Unterhauses nochmal vertagt, wohl auch angesichts der Brandkatastrophe in dem Londoner Hochhaus. Hier mehr zu den Forderungen der DUP.

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