Zitat von Llarian im Beitrag #625Und was den Rest angeht, so klingt das extrem nach: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen (no pun intended auf den Begriff Mohr, ich habe den Spruch halt so das erste mal gehört). Das ist absolut nicht meine Vorstellung eines Bündnisses, bei dem Partner genau so lange zusammen arbeiten, bis man seinen Nutzen erfüllt hat.
Das ist auch nicht meine Vorstellung eines Bündnisses, aber darauf will ich ja hinaus: Langfristig macht ein Bündnis nur dann Sinn, wenn es gemeinsame Interessen gibt, die über die Landkarte hinausgehen.
Ein Problem dabei ist natürlich, dass es für NATO-Mitglieder genauso wenig ein Exit-Szenario gibt wie für EU- oder Euro-Mitglieder. Erst mal ausweiten, immer mehr, und dann sehen wir weiter. Dann könnte man evtl. noch mehr ausweiten. Wenn das dann Probleme gibt, stehen alle wie das Kind vorm Dreck und man versucht, das Ganze mit Geld zu beerdigen, bis das Geld nix mehr wert ist.
Nebenbei: Was Merkel hier angerichtet hat auf allen Ebenen, vor allem beim Abbau der Rechtsstaatlichkeit, war schlimm genug, aber das ist Welten vom Staatsverständnis eines Erdogan erntfernt. Wie gesagt, Erdogan ist die türkische Kopie von Putin. Ich sehe nicht den geringsten Unterschied zwischen der russischen und der türkischen Regierung.
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #621Schauen Sie sich bitte mal die 3 Fernsehduelle zwischen Nixon und Kennedy im Herbst 1960 an (die ersten, die überhaupt stattfanden).
Ich gebe mich geschlagen!
Zitat von Emulgator im Beitrag #624Naja, wenn in TR das Volk einen EU-Beitritt will aber die Regierungschefin des wichtigen EU-Landes sagt, das gäbe es nur, wenn das Militär entmachtet wird, dann ist damit natürlich der gestärkt, der das Militär sowieso entmachten möchte.
Zustimmung.
Zitat von EmulgatorDas stimmt natürlich nicht, weil er schon Politiker war, als sie noch Bundesumweltministerin war. Aber wir wissen, was für Folgen und Dynamiken sich entwickeln, weil Politiker heikelen Entscheidungen ausweichen wollen.
Hier kommt es wieder dazu, was ich schon beim Thema Ukraine gesagt habe: Verantwortung vs. Schuld. Schuld an der Entwicklung haben ausschließlich die Leute, die die TÜRK in eine Diktatur verwandeln wollen. Verantwortung, es nicht verhindert zu haben... Das haben auch andere. Meine ich ausdrücklich nicht als Vorwurf.
In Deutschland haben wir eben zusätzlich das Problem, dass externe Angelegenheiten in der Türkei in gewisser relevanter Hinsicht innenpolitisch sind. Das haben wir in Polen, China oder auch Russland praktisch nicht.
Zitat von Llarian im Beitrag #625Das ursprüngliche Ziel der EU waren NICHT die "Vereinigten Staaten von Europa".
Vereinigte Staaten von Europa können verschiedenen konstituiert sein.
Zitat von Llarian im Beitrag #625Nicht zuletzt deshalb, weil man immer die Frage stellen kann, wie "nützlich" beispielsweise die BRD für die USA ist und ich bin sehr froh, dass die nicht so genau darauf achten.
Diese Frage wurde durch Trump aufgeworfen und ich bin sicher, dass Geopolitiker, Strategen und Politologen dieses Problem genau behandeln. Deutschland hat durch seine Lage im "Herzen Europas" einige wirtschaftliche und strategische Vorteile, die es ausspielen kann und die es als Verbündeten nicht unwichtig erscheinen lassen. Zudem ist Deutschland immernoch unter den Top5 Volkwirtschaften und performed teilweise vergleichbar mit Japan. Einige Experten schrieben sogar, unter leicht anderen Bedingungen würde der Exportweltmeister beeindruckender abschneiden.
Ich gehe davon aus, dass -- wenn der US-Präsident in seinen Warroom sitzt und dort die Weltlage diskutiert -- solche knallharten Vor- und Nachteile klar auch auf den Tisch kommen. Keim Kanzleramt bin ich mir leider fast sicher, dass diese Betrachtungweise exotisch sein würde...
Zitat von F.Alfonzo im Beitrag #626Ich sehe nicht den geringsten Unterschied zwischen der russischen und der türkischen Regierung.
Effektiv mögen die Unterschiede gering sein. Mittelfristig sind die Unterschiede aber gewaltig. Schon wegen der propagierten Ideologie.
Zitat von Johanes im Beitrag #627 Ich gehe davon aus, dass -- wenn der US-Präsident in seinen Warroom sitzt und dort die Weltlage diskutiert -- solche knallharten Vor- und Nachteile klar auch auf den Tisch kommen. Keim Kanzleramt bin ich mir leider fast sicher, dass diese Betrachtungweise exotisch sein würde...
Bei diesem Präsidenten bin ich mir ziemlich sicher, daß das definitiv nicht stattfindet. Der hat schon genug Schwierigkeiten, sich ohne seinen Spickzettel nicht auf der wöchentlichen PK zu verlaufen. Wenn man das einmal mit Auftritten Bidens selbst von vor 3, 4 Jahren vergleicht, ist das zutiefst erschreckend. Aber ich gehe davon aus, daß die gesamte Politik, soweit sie nominell noch von Präsidenten ausgeht, realiter durch einen Klüngel grauer Eminenzen erfolgt - schon weil man sich komplette Aussetzer & Ausfälle nicht leisten kann.
Davon aber ab, ist das ein allgemeines Problem der politischen Führung. Man kann gewaltige Teile eines solchen Komplexes für der Alpha-Persönlichkeit verschleiern, besonders wenn investierte Interessen ins Spiel kommen -etwa weil Lobbyisten in der Kulisse Strippen zu ziehen versuchen oder jemand in der Führungsriege eigene Ambitionen entwickelt, die mit dem offiziellen Kurs nicht deckungsgleich sind. Hinzu kommt, daß "die Regierung" oft kaum Überblick über das hat, was an einem Krisenherd vorgeht - und schon gar nicht, was aus wlechen Weichenstellungen wird. Immer wieder zu sehen, wenn sich zeigt, daß kein "Plan B" für einen Exit vorhanden ist, um aus einem Schlamassel herauszukommen. Kabul war vor 10 Monaten ein Schulbuchbeispiel dafür.
"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire
Zitat von Llarian im Beitrag #625[ Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen (no pun intended auf den Begriff Mohr, ich habe den Spruch halt so das erste mal gehört).
<klugscheiss-modus> Kleines Offtopic dazu: Soweit ich weiss, bezieht sich dieses Zitat auf eine Stelle aus "Die Verschwörung des Fiesco von Genua" vom ollen Schiller. Der sprichwörtliche Mohr ist aber kein Mohr, sondern eben ein Maure (also ein Nordafrikaner). Siehe dazu auch "Othello oder der Mohr von Venedig" (Englisch: The Moore of Venice), was eben gerade KEINEN Mohren physiognomisch beschreibt, sondern eben einen Mauren. Sozusagen ein frühes Beispiel von False Friends.
Insofern ist der Vergleich mit Erdogan nicht gar so weit hergeholt, sieht er doch auch recht maurisch aus (und gar nicht mohrenhaft).
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #555Es ist bekannt, daß ich mit Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts eine variante der Fritz-Fischer-These vertrete. Nicht weil ich DE die Hauptschuld an "1914" gebe, als "Griff nach der Weltmacht" (das war erklärtermaßen nur die "Hegemonie in Europa"). ABER: Wenn man das Deutsche Reich von der Landkarte von 1914 streicht, wäre es nicht zu den vier endlosen Jahren der Urkatastrophe des 20. Jahrhundert gekommen. 1945 war es dann Konsens, daß genau das geschehen mußte, um diesen Faktor künftig auszuschließen. Und so geschah es: Aus dem tobenden Elefanten wurde eine Maus - neuerdings eine winselnde Maus, die sich in Sachen Militär in eier albernen Weise aufführt, die spätere Historiker als Zeichen kollektiver INfantilität deuten werden (das reiht sich natürlich nahtlos bei anderen Krankheitsymptomen unserer fatalen Dekadenz ein, von Greta bis Regenbogenflaggen). Aber: nach dem August 1939 ist der Weltrest nicht bei Hitler angekrochen gekommen, um ihm einen "gesichtwahrenden Ausweg" anzudienen; nicht beim Duce, nicht bei Hirohito. Mit Bonaparte ist nicht "gesichtswahrend" verhandelt worden; bei dem Kaiser und der OHL nicht im Sommer 1918, trotz Wilsons 14 Punkten.
Ich mag mich täuschen, glaube mich aber zu erinnern, dass als ein besonders lobenswertes Merkmal des Wiener Kongresses gerne hervorgehoben wird, dass zwar nicht Bonaparte aber immerhin Talleyrand auf Augenhöhe mitverhandeln durfte. Aber das nur nebenbei.
Ich erlaube mir als Erwiderung eine Passage aus einem Buch zu zitieren, das auch zur Gänze als empfehlenswerte Lektüre gelten kann, wenn man die Ereignisse des Ersten Weltkrieges rekapitulieren möchte. Herfried Münkler, „Der große Krieg, Die Welt 1914 – 1918“, Rowolt 2013, S782ff:
Zitat Die Jugoslawischen Zerfallskriege nach 1991 jedoch waren eine deutliche Warnung vor dem Irrglauben, die Konstellationen, die in den Ersten Weltkrieg geführt hatten, seien überwunden und die Theorie des demokratischen Friedens sei der Schlüssel einer dauerhaften Friedensordnung in Europa. Dem kann nur folgen, wer bedingungslos der von Fritz Fischer vertretenen These anhängt, wonach der Erste Weltkrieg allein deshalb stattgefunden habe, weil ihn die politische und militärische Führung des Deutschen Reiches im Juli 1914 gewollt habe. Auf längere Sicht haben Fischers Thesen wie ein politischer Tranquillizer gewirkt, der gegenüber den fortbestehenden Konfliktfeldern in Europa unaufmerksam und schläfrig gemacht hat: Solange es in Europa kein Regime wie das Wilhelms oder Hitlers gab, musste man mit keinem weiteren Krieg rechnen. Die jugoslawischen Zerfallskriege haben das als irrig erwiesen – außer man hätte in dem serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic einen neuen Hitler sehen wollen, was einige auch tatsächlich getan haben. Damit aber ist nichts erklärt, sondern nur ein neuer politischer Glaube verteidigt worden. Auf diese Weise wird es noch viele `Hitler´ geben. (sic!)
Für das politische Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland freilich haben Fischer Thesen zunächst eine wichtige Funktion gehabt; Wenn nämlich, wie Fischer erklärte, der Weg in den Ersten Weltkrieg keine Folge von Zufällen und Fehleinschätzungen war, sondern von der politisch-militärischen Elite zielstrebig verfolgt wurde, waren die Deutschen auch für ihre anschließende Geschichte verantwortlich. Sie konnten sich folglich nicht mehr damit herausreden, dass es, wenn man nicht zufällig in den Ersten Weltkrieg hineingeraten wäre, weder Hitler noch den Zweiten Weltkrieg gegeben hätte; auch der Hinweis auf Artikel 231 des Versailler Vertrages, der Deutschland die alleinige Schuld am Krieg aufbürdete und ganz wesentlich zur Instabilität der Weimarer Republik und damit zum Aufstieg Hitlers beigetragen habe, lief dann ins Leere. Lloyd Georges Formel vom «Hineinschlittern» in den Krieg und die Vorstellung von der Kontingenz des Geschehens stützten in Deutschland dagegen die Idee, die Folgen von 1933 und 1945 ließen sich, zumindest auf der politischen Landkarte, wieder revidieren, weil man doch nicht wirklich «schuldhaft» auf diese Bahn geraten sei. Derartige Behauptungen und Ausreden waren erledigt, wenn Deutschland die Schuld am Ersten Weltkrieg trug. Die Heftigkeit, mit der Fritz Fischers Thesen diskutiert wurden, zeigt, dass den Zeitgenossen deren politische Brisanz bewusst war. Es ging dabei nicht bloß um eine historische Aussage von mehr oder weniger wissenschaftlicher Dignität; wenn Fischer recht hatte, dann musste man die geographische Verkleinerung und Aufspaltung Deutschlands, eingeschlossen die politische Teilung, als gerechte Strafe für die mutwillig angezettelten Kriege akzeptieren und begreifen, dass seine Nachbarn nie wieder einen so gefährlichen Akteur in ihrer Mitte dulden würden.
Was Münkler an dieser Stelle nicht weiter ausführt aber immerhin andeutet: Die Fischer-Denke ist so gesehen auch die Grundlage für die Auffassung, die Wiedervereinigung Deutschlands sei eine vorzeitige und ungerechtfertigte Begnadigung des "Sträflings" Deutschland gewesen und in weiterer Folge, da sie nun einmal passiert ist und nicht zu vermeiden war, dass die beste Reaktion darauf sei, die deutsche Nation als Ganzes in Europa aufzulösen.
Eine weitere Konsequenz, mit besorgniserregenden Implikationen für die Gegenwart, ist logischerweise, dass die Fischer-Denke die Gegner des Deutschen Reichs - das Russländische Reich, Frankreich, das British Empire - von aller Verantwortung für die Sicherung des Friedens enthebt. Die von Fischer paradigmatisch vorgeführte "Verhitlerung" Wilhelms II. ist eine direkte Apologie aller Entscheidungen und Aktionen der triple-Entente. "Lernt" man auf diese Weise aus der Geschichte, kommt es zu der von Münkler angedeuteten ständigen Entdeckung "neuer Hitler" bzw. zur tatsächlich allenthalben anzutreffenden "Verhitlerung" politischer Gegner. Das läuft dann typischer Weise auf eine Dämonisierung des Gegners hinaus, die bereits den Gedanken, nach einem friedenserhaltenden, bzw. friedensherstellenden Interessensausgleich zu suchen, als "Appeasement" hinstellt und letztlich nur einen gesinnungsethisch gebotenen "totalen Krieg" als einzige Alternative zulässt. Paradox, nech?
ich erlaube mir an dieser Stelle mal einen Kommentar abzugeben:
Zitat von Saki im Beitrag #632die spätere Historiker als Zeichen kollektiver INfantilität deuten werden
Diesen Modus beobachte ich im Internet inzwischen relativ häufig: Man greift einer fiktiven, zukünftigen Geschichtsschreibung vor und sagt voraus, wie künftige Generationen heute beurteilen werden.
Natürlich wissen wie nicht, wie und ob künfitge Generationen diesen Zeitabschnitt beurteilen werden. Möglicherweise sind wir auch die Barbaren, die viele unmenschliche Dinge noch zugelassen haben oder Opfer der Umstände oder sonst etwas.
Zitat von Saki im Beitrag #632Ich mag mich täuschen, glaube mich aber zu erinnern, dass als ein besonders lobenswertes Merkmal des Wiener Kongresses gerne hervorgehoben wird, dass zwar nicht Bonaparte aber immerhin Talleyrand auf Augenhöhe mitverhandeln durfte.
Ich dachte bisher, es wäre ein Vorzug "unserer" Betrachtungsweise, dass man vom gegebene ausgeht und versucht in diesem Rahmen möglichst das Beste rauszuholen...
Zitat und in weiterer Folge, da sie nun einmal passiert ist und nicht zu vermeiden war, dass die beste Reaktion darauf sei, die deutsche Nation als Ganzes in Europa aufzulösen.
Wenn ich die Politik im übrigen Europa so mit der deutschen vergleiche, dann könnte das aus einer libkon oder liberalen Sichtweise vielleicht das kleinere Übel sein.
Man mag über Frankreich z. B. denken was man will und da gibt es gewaltige Probleme. Aber ich sehe nicht, dass man dort ernsthaft versucht die Probleme dauerhaft zu ignorieren und sich lieber mit Steckenpferden befasst.
Zitat von Johanes im Beitrag #633Natürlich wissen wie nicht, wie und ob künfitge Generationen diesen Zeitabschnitt beurteilen werden. Möglicherweise sind wir auch die Barbaren, die viele unmenschliche Dinge noch zugelassen haben oder Opfer der Umstände oder sonst etwas.
Das ist dann eine Frage der Gewichtung. Natürlich ist es schwierig, hier ein klares Bild auszumachen, wohin die Reise geht - & wie sich das in den einzelnen Etappen vollziehen wird. En gros: ob sich der Zerfallsprozess noch aufhalten & umkehren läßt; en détail: ob retardierende Momente auftreten, die etwa zur Aufsplitterung a. der EU, b. Deutschlands führen und von dem sich einzelne Partien unter ein anderweitig schützendes Dach retten können. (Kap. 7.8: "Im Herbst 2045 schloss sich das halbwegs von den Bürgerkriegswirren verschonte Gebiet Sachsens der Ostunion an, nachdem deren Sezession aus der verbliebenen Rumpf-EU besiegelte Sache war"). In solchen Fahrplänen irren die Glaskugelbetrachter seit 100 Jahren zuverlässig, angefangen mit Spengler bis hin zu allen SF-Projektionen über die konkrete Weltlage in 100-200 Jahren. Einige Aussagen erweisen sich als kristallklar, aber es sind die überraschenden Ausnahmen. (Etwa Peter Zeihans Voraussage von 2014, daß Russland eine Invasion der Ukraine definitiv durchführen würde, und zwar "im Zeitraum bis spätestens 2022.")
Daß ich mir trotzdem einigermaßen sicher bin, daß wir im Ablauf des aktuellen Jahrzehnts den Deckel auf dieses Staatgebilde nageln können, liegt daran, daß der Zerfall auf allen, sämtlichen Ebenen greift - nicht nur in der politischen Geschiebelage. Wir zerstören seit 10, 15, 20 Jahren systematisch sämtliche Grundlagen für Wohlstand, soziales Miteinander, Bildung, Energieversorgung, politischen Pluralismus, eine ideologiefreie Öffentlichkeit (auch Offene Gesellschaft genannt). Die Bevölkerung wird systematisch durch Leute ersetzt, die auf das Funktioneren einer Überflußgesellschaft angewiesen sind, aber nicht in der Lage, deren Grundlagen am Laufen zu halten. Wir sind eine Industriegesellschaft & auf verläßliche & bezahlbare Energie 24/7 auf Gedeih & Verderb angewiesen. Und wir sehen aktuell, wie sehr sich die Ideologeme des "Grünen," "Progessiven", "Woken" als völlig immun gegen den Einbruch der sichtbaren Gefährdung erweisen.* Demographie, Energieversorgung, "Zero Emission bis 2050, 40, 30" - jeder einzelne Punkt reicht hin, uns als Industriegesellschaft den Hals umzudrehen; die aktuelle Krise tritt die Lawine nur verfrüht los. Es gab im 19. Jahrhundert - bis hin zum oben erwähnten Spengler - mal eine Vokabel, die solche Sekundärerscheinungen einer kompletten inneren Verrottung bündelte: Dekadenz.
Und ich gehe davon aus, daß all das, was ich als Ausdruck dieser Dekadenz deute: der Genderquatsch, die Klima!-Hysterie, die erzwungene Fernstenliebe, die mediale Vernichtung jedes pragmatisch-nüchternen Diskurses, von späteren Historikern entweder als Symptom oder als Ursache unseres Verschwindens aus der Geschichte gesehen werden wird. Es sind nämlich samt und sonders "negative Werte" - sie führen nur zur Zerstörung einer Gesellschaft, ihnen steht keinerlei positiver Mehrwert, Zuwachs oder Erweiterung des Spektrums gegenüber (wie etwa bei der alten Frauenemanzipation, der die Hälfte der Menscheit als Rechts- und Wirtschaftssubjekt stärkte). Salopp: Windmühlen & Regenbogenflaggen sind einzig Kosten- und Störfaktoren, um nicht zu sagen: gezielte Zersetzung. Man muß sie sich leisten können. Die Einzelheiten dieses Niedergangs sind wie gesagt kontingent. Aber daß hier gerade ein Prozeß anläuft, der nur mit dem Untergang des Römischen Reiches vergleichbar ist und ebenso unaufhaltbar, das dürfte ziemlich in Stein gemeißelt sein.
* Nachtrag: dazu gehört auch, daß der Regenbogenfahnenmist ja nicht, wie bei früheren Durchläufen üblich, Teil der "Gegenkultur," des "Protestes," des Aufmupfens der Untergebutterten ist, wie mal vom Turnvater Jahn bis zum Punk-not-dead! üblich, sondern integraler Teil der Staatsräson, die sämtlichen anderen Bürgern den Hals hinuntergestopft wird, und die beim kleinsten Widerspruch als Staatsfeind denunziert werden.
"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire
Zitat von Johanes im Beitrag #633Ich dachte bisher, es wäre ein Vorzug "unserer" Betrachtungsweise, dass man vom gegebene ausgeht und versucht in diesem Rahmen möglichst das Beste rauszuholen
Und ich dachte es gehe um historische Fakten.
Zitat von Johanes im Beitrag #633Wenn ich die Politik im übrigen Europa so mit der deutschen vergleiche, dann könnte das aus einer libkon oder liberalen Sichtweise vielleicht das kleinere Übel sein. Man mag über Frankreich z. B. denken was man will ...
Gerade was das militärische und das Thema "aus der Geschichte lernen" angeht, ist das gewiss eine interessante Perspektive. Ein unvoreingenommener Beobachter könnte auf den Gedanken kommen, dass die "Lehre" die Frankreich aus dem Ersten für den Zweiten Weltkrieg gezogen hat, darin bestünde, dass eine zügige Kapitulation eben auch eine Option ist, die mit einem erfreulich niedrigen Blutzoll für Frankreich einher ging. Gratuliere!
Nun, Spenglers Methodik dürfte da relativ einmalig sein, soviel dazu...
Zitat von Ulrich ElkmannDaß ich mir trotzdem einigermaßen sicher bin, daß wir im Ablauf des aktuellen Jahrzehnts den Deckel auf dieses Staatgebilde nageln können, liegt daran, daß der Zerfall auf allen, sämtlichen Ebenen greift - nicht nur in der politischen Geschiebelage.
Wie lange hat sich Rom noch mal gehalten? Und wie lange Österreich-Ungarn?
Und vor allen Dingen können wir als Zeitgenossen gar nicht vorhersehen, was am Ende des Zerfallsprozesses stehen wird. Eine gestärkte Union, eine neue machtvolle Ideologie oder nur der Niedergang? Die Zeit vor dem 1. Weltkrieg wurde von einigen Zeitgenossen auch als Dekadent erlebt. Für anderen war sie die Epoche des Fortschritts.
Zitat von Ulrich ElkmannSalopp: Windmühlen & Regenbogenflaggen sind einzig Kosten- und Störfaktoren, um nicht zu sagen: gezielte Zersetzung. Man muß sie sich leisten können. Die Einzelheiten dieses Niedergangs sind wie gesagt kontingent.
Ich stimme Ihnen zu, dass da einiges im Argen liegt, auch ideologisch...
Aber wir haben es immerhin mit einer Strategie zu tun, die solche Ziele wie "Unabhängigkeit Westeuropas" und "Senkung der CO2-Emissionen" beinhaltet.
Zitat von Ulrich Elkmann* Nachtrag: dazu gehört auch, daß der Regenbogenfahnenmist ja nicht, wie bei früheren Durchläufen üblich, Teil der "Gegenkultur," des "Protestes," des Aufmupfens der Untergebutterten ist, wie mal vom Turnvater Jahn bis zum Punk-not-dead! üblich, sondern integraler Teil der Staatsräson, die sämtlichen anderen Bürgern den Hals hinuntergestopft wird, und die beim kleinsten Widerspruch als Staatsfeind denunziert werden.
Es ist richtig, dass die sog. "Gegenkultur" heute Teil der herrschenden Gewalt ist. Das bemerkt man auch daran, das viele Leute ihre Perspektiven plötzlich überraschend ändern oder gar nicht mehr zurechtkommen.
Zitat von Saki im Beitrag #635. Ein unvoreingenommener Beobachter könnte auf den Gedanken kommen, dass die "Lehre" die Frankreich aus dem Ersten für den Zweiten Weltkrieg gezogen hat, darin bestünde, dass eine zügige Kapitulation eben auch eine Option ist, die mit einem erfreulich niedrigen Blutzoll für Frankreich einher ging. Gratuliere!
Zitat von Johanes im Beitrag #636 Wie lange hat sich Rom noch mal gehalten? Und wie lange Österreich-Ungarn?
Lieber Johanes,
au contraire. Bei Rom (Ich gehe davon aus, dass Sie Westrom meinen) gibt es ja einen fast nahtlosen Übergang ins oströmische Reich mit einer bewundernswert langen Kontinuität. Außerdem gab es nicht wirklich einen validen Gegenentwurf zu Westrom, außer "Wir wollen Rom plündern und zerstören". D.h. es gab keinen eindeutigen Antagonisten, sondern diese Rolle haben verschiedene Völker zu verschiedenen Zeiten eingenommen. In Gallia wiederum gab es einen Machtübergang von römischen zu fränkischen Eliten, mit weitgehender kultureller Aneignung des "Römischen" durch die Franken, inkl. Sprache. Im Gegensatz dazu gibt es heute zum "Westen" mindestens zwei Gegenentwürfe, die offenbar auch über einen gewissen Erfolg und Appeal verfügen.
Österreich-Ungarn ist übrigens ein interessanter multikultureller Gegenentwurf zum Nationalstaat europäischer Prägung. Viele Sprachen, kulturelle Eigenständigkeit, unterschiedliche Level an regionaler Autonomie, bis hin zu einem einheitlichen, aber kulturell und sprachlich diversen Militärapparat. Und trotzdem die Zugehörigkeit zu einem einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraum, sowie weitgehend zu einem übergeordneten Kulturkreis. Man kann mit Fug und Recht das kuk-Reich als die Blaupause für die Europäische Union sehen. Es ist auch sehr erstaunlich, wie lange es der Monarchie doch gelungen ist, die separatistischen Fliehkräfte der Italiener, Kroaten, Polen, Tschechen, Slowenen, Ungarn auf unterschiedliche Art und Weise im Zaum zu halten. Heute denken wir bei Österreich-Ungarn an Schwejk (ein Tschech' !) und an Hans Moser und "Bittscheen, gnä' Frau" und "Sissi", aber wenn man sich das mal bei Lichte betrachtet, was die Habsburg-Monarchie eigentlich das unmöglichste Gebilde überhaupt zur damaligen Zeit, schon fast singulär. Und hielt trotzdem sehr lange und entfaltet nach wie vor eine ungemeine Integrationskraft, gerade nach Osteuropa. (Über die Kulinarik brauchen wir gar nicht zu reden, da sind die Schluchtenscheißer ja wirklich Weltspitze!)
Zitat von Johanes im Beitrag #636 Und vor allen Dingen können wir als Zeitgenossen gar nicht vorhersehen, was am Ende des Zerfallsprozesses stehen wird. Eine gestärkte Union, eine neue machtvolle Ideologie oder nur der Niedergang? Die Zeit vor dem 1. Weltkrieg wurde von einigen Zeitgenossen auch als Dekadent erlebt. Für anderen war sie die Epoche des Fortschritts.
Wie sagt der weise Mann so schlau? Vorhersagen sind schwierig. Vor allem dann, wenn sie die Zukunft betreffen.
Ich vermag nicht zu schätzen was in 20 oder gar mehr Jahren passiert, aber bei einem bin ich mir doch recht sicher: Eine "gestärkte Union" wird es allenfalls als neue und blutige Diktatur geben, ob man da noch von der Union sprechen kann, weiß ich nicht, es wird aber nicht mehr viel mit dem dekdadenten Zustand zu tun haben, den wir in den letzten Jahren erlebt haben und derzeit erleben. Die sich mir stellende Frage ist wie tief die Zerstörung in die Gesellschaft bereits eingesunken ist. Das sollte man nicht an ein paar AKWs, Windrädern, Elektroautos oder maroder Infrastruktur festmachen. Das sind alles handfeste Probleme, die auch diesen Winter vermutlich ein paar tausend Leute (wenn das reicht) das Leben kosten wird, ein paar hunderttausend die Existenz, aber das sind am Ende doch wirtschaftliche Dinge, die "reparabel" sind. Wenn sich die heutige Generation hinsetzen würde, die geballte Inkompetenz in Berlin und Brüssel zum Teufel jagt und sich wieder besinnen würde, sind die meisten dieser Probleme in wenigen Jahren lösbar. Wir können neue AKWs bauen, wir können Infrastruktur reparieren, wir können Straßen bauen, Autos bauen, Industrie wieder aufbauen. Das geht alles und es ginge sogar ziemlich gut, denn die Technik ist heute deutlich weiter als vor 80 Jahren, wo man das Spiel schon einmal spielen musste.
Das Problem sind eher immaterielle Dinge, wie eine Generation, die es für wichtiger hält darüber zu sinnieren, ob in Haiti der Meeresspiegel um 3 cm steigt als darüber das sie auf der Schule nur noch Singen und Klatschen gelernt haben. Die meint es sei jetzt unheimlich wichtig die koloniale Vergangenheit zu debattieren und es für unwichtig oder unvermeidlich findet, wenn ganze Innenstädte zu rechtsfreien Zonen degenerieren. Die sich ernsthaft die Frage stellen welchem von 83 (oder mehr) Geschlechtern sie angehören wollen, statt sich Gedanken dazu zu machen, dass im letzten Jahr der Rechtsstaat zusammen gebrochen ist. Die nicht in der Lage sind einen Nagel gerade in die Wand zu hämmern, aber davon träumen "Influencer" oder "Podcaster" zu werden. Anders gesagt: Unser Problem ist nicht Reichtum oder Besitz sondern eine tiefschürfende, alle Eben erfassende Dekadenz. Und die einzig wirklich wichtige Frage ist: Wie tief ist diese Dekadenz in die Gesellschaft eingesunken? Wie viele Leute können noch einen Nagel in die Wand hauen und wie viele wollen das überhaupt noch? Die Menge der produktiven Menschen, also denen, die wirklich schaffen, die arbeiten, die was können, die Mehrwert generieren, die produzieren, ist seit Jahrzehnten konsequent im Rückgang. Erst war es keine Mehrheit mehr, inzwischen ist es eine gewaltige Minderheit. Aber genau die braucht man, wenn das ganze zusammen klappt.
Ich kann die Zukunft (natürlich) nicht vorhersagen, aber ich sehe das ganze definitiv am Scheideweg: Entweder gibt es einen radikalen Umschwung ala Trump (unwahrscheinlich aber möglich). Oder es kann nur im totalen Niedergang enden. Wenn mir das Wasser bis zum Hals steht, habe ich genau zwei Möglichkeiten: Schwimmen oder Absaufen. Es gibt nicht "ein bischen schwimmen".
Zitat von Johanes im Beitrag #636Wie lange hat sich Rom noch mal gehalten?
Ich bin da vor einigen Jahren in düsterer Vorahnung (das war 2014) mal en détail durchgegangen, und es hat mir buchstäblich die Stiefel ausgezogen. Allerdings mußte ich feststellen, daß die archäologische Fundlage auch schon für das ganze 4. nachchristliche Jahrhundert überaus schütter ist. Wir haben für die Zeit von ca. 320 n.Chr. bis zum 6. Jh. für den gesamten Bereich des Imperium Romanum nicht einmal 200 Statuenfunde (das meiste auch nur Relikte), die einigermaßen sicher zu datieren sind; ein paar Dutzend Münzfunde, irgendetwas zwischen 40 bis 50 Inschriften (bei einem Staat, der an jedes öffentliche Gebäude & jeden Tempel zu schreiben pflegte, daß dies ein Tempel sei, oder ein Puff, wie in Pompeji). Die Bevölkerung Roms sinkt von einer Million auf irgendetwas zwischen 50.000 und 20.000. Die Bevölkerungsdichte in Norditalien, wo man das anhand der Dichte von Gehöften & Pollenfunden festgemacht hat, auf 1 bis 2 Prozent der Blütezeit des Imperiums. Typisch für das römische Reich zwischen der Zeitenwende und dem 3. Jh. sind gewaltige Manufakturen (ich hatte das in meinem "Garum!"-Posting angerissen). Eins der typischen Produkte aus Norditalien & Südfrankreich sind gebrannte Dachziegel. Die waren so weit verbreitet, daß die zur Belegung jeglicher dem Regen ausgesetzten Mauer verwendet wurden - einschließlich Einfassungsmauern & Ställe. Mit dem Anfang des 5. Jdt.s reißt das schlagartig ab, und für die nächsten 400-500 Jahre geht diese Kulturtechnik schlicht verloren - da wo dergleichen noch verwendet wird, handelt es sich um Spolien.
Es zeigt sich da, meine ich, ein Trend (jedenfalls was unsere Optik auf dergleichen betrifft). Ab den 1970er Jahren gab es einen Modetrend in der Geschichtswissenschaft (ein Oxymoron, ich weiß...), den "Untergang Roms" wegzueskamotieren. War nicht so schlimm: die Leute hatten halt die Nase vom Stadtleben voll & haben lieber den ganzen Tag den Acker umgegraben (Vito Fumagalli war da ziemlich laut; aber auch so einige aus dem Weichbild der Ecole des Annales): die Fiktion vom "Niedergang Roms" sei nur ein Produkt der romantischen Phantasie des 19. Jahrhunderts. Die Fundlage spricht eine andere Sprache. Ditto mit dem "dunklen Zeitalter" der folgenden Jahrhunderte in Germanien. Das knastrige 19. Jdt. habe phantasiert, die ganze Norddeutsche Tiefebene sei entvölkert worden, weil "die angelnden Sachsen alle mit Hengist & Horsa nach England 'rübergemacht" hätten. Alles nur Stubengelehrten-Einbildung, wahrscheinlich, weil die was zu kompensieren hätten. In den letzten 20 Jahren hat es zu der Frage ziemlich gute Pollenanalysen aus Bodenschnitten gegeben - und siehe da: die Stubengelehrten hatten absolut recht. Auch nördlich der Mittelgebirge sinkt der jährliche Eintrag von Kulturpflanzenpollen gegenüber Birke, Esche & Eiche auf weniger als 1% zwischen der Mitte der 5. und dem Ende des 8. Jahrhunderts.
"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire
Zitat von Llarian im Beitrag #638Und die einzig wirklich wichtige Frage ist: Wie tief ist diese Dekadenz in die Gesellschaft eingesunken? Wie viele Leute können noch einen Nagel in die Wand hauen und wie viele wollen das überhaupt noch? Die Menge der produktiven Menschen, also denen, die wirklich schaffen, die arbeiten, die was können, die Mehrwert generieren, die produzieren, ist seit Jahrzehnten konsequent im Rückgang.
Im Prinzip ist das kein großes Problem, wenn das hiesige Anreizsystem mal wieder aktiviert wird: wer nix Produktives beiträgt, muss halt Armut erleiden. Nix mehr mit sozioökonomischem Mindesteinkommen, sondern ein beheiztes Zimmer bei Wasser und Brot, Klo auf dem Gang, einmal die Woche Duschen. Dann renkt sich das automatisch wieder ein. Denn es gibt unglaublich viele Tätigkeiten, die wirklich überhaupt keine signifikante Ausbildung erfordern, und trotzdem "produktiv" sind, mindestens in dem Sinne als sie den tatsächlich produktiven Teil der Bevölkerung nicht von den wichtigen Arbeiten abhalten, sondern von der Routinearbeit entlasten. Und das Liegengebliebene erledigen, da hat sich in den letzten drei Jahrzehnten wirklich genug angesammelt.
Das wird nach meiner Einschätzung aber ein sehr sehr langsamer Prozess sein. Man schaue sich nur mal an wie lange die DDR überlebt hat, und das wäre ja noch locker 100 Jahre weiter gegangen auf stetig sinkendem Niveau - der Fall des eisernen Vorhangs war ja keineswegs zwingend. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass wir entweder eine radikale Wende oder einen schnellen Niedergang erleben. Die "first world problems" werden halt nach und nach in Vergessenheit geraten.
Zitat von Saki im Beitrag #632Ich erlaube mir als Erwiderung eine Passage aus einem Buch zu zitieren, das auch zur Gänze als empfehlenswerte Lektüre gelten kann, wenn man die Ereignisse des Ersten Weltkrieges rekapitulieren möchte. Herfried Münkler, „Der große Krieg, Die Welt 1914 – 1918“, Rowolt 2013, S782ff:
Zitat Die Jugoslawischen Zerfallskriege nach 1991 jedoch waren eine deutliche Warnung vor dem Irrglauben, die Konstellationen, die in den Ersten Weltkrieg geführt hatten, seien überwunden und die Theorie des demokratischen Friedens sei der Schlüssel einer dauerhaften Friedensordnung in Europa. Dem kann nur folgen, wer bedingungslos der von Fritz Fischer vertretenen These anhängt, wonach der Erste Weltkrieg allein deshalb stattgefunden habe, weil ihn die politische und militärische Führung des Deutschen Reiches im Juli 1914 gewollt habe. Auf längere Sicht haben Fischers Thesen wie ein politischer Tranquillizer gewirkt, der gegenüber den fortbestehenden Konfliktfeldern in Europa unaufmerksam und schläfrig gemacht hat: Solange es in Europa kein Regime wie das Wilhelms oder Hitlers gab, musste man mit keinem weiteren Krieg rechnen. Die jugoslawischen Zerfallskriege haben das als irrig erwiesen – außer man hätte in dem serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic einen neuen Hitler sehen wollen, was einige auch tatsächlich getan haben. Damit aber ist nichts erklärt, sondern nur ein neuer politischer Glaube verteidigt worden. Auf diese Weise wird es noch viele `Hitler´ geben.
Milosevic war der klassische aggressive Staatsführer, er hatte halt nur nicht die Mittel von Hitler zur Verfügung, deshalb hat es halt nur für Jugoslawien und nicht für Europa und Nordafrika gereicht. Wenn es einen Aggressor gibt, sind Konflikte eben wahrscheinlicher wie bei Friede-Freude-Eierkuchen. Gerade die These Fischers vom einzelnen Aggressor erklärt doch die Jugoslawien-Kriege prima. Inwiefern das ein "Tranquilizer" gewesen sein soll, erschließt sich mir nicht. Und warum die "Theorie des demokratischen Friedens" zwingend auf Fischers These zurückgehen soll, ist auch eine unbelegte, wenn nicht sogar absurde Behauptung.
Ich kenne Münkler nur von kurzen Kommentaren in einer Vietnam-Doku und von seinen Ukrainekrieg-Einlassungen - bisher hat sich mir seine Weisheit nicht erschlossen. So auch dieses Mal nicht.
Zitat von hubersn im Beitrag #641 Das wird nach meiner Einschätzung aber ein sehr sehr langsamer Prozess sein. Man schaue sich nur mal an wie lange die DDR überlebt hat, und das wäre ja noch locker 100 Jahre weiter gegangen auf stetig sinkendem Niveau
Da halte ich dagegen. Wir haben uns nämlich ein System gezimmert, das zwingend darauf beruht, daß von oben immer wieder Geld nachgeschüttet werden kann. Und wenn der Zufluß versiegt, ergibt das unschöne Kaskadeneffekte. Wir fangen gerade an, das in Frage Energie + Gas zu sehen. Der größte Teil der Bevölkerung ist nicht mehr in Produktionsvorgänge eingebunden, und wenn kein Strom mehr aus der Leitung kommt und kein Saft aus der Tanksäule, steht das sowieso. Und die Millionen vermeintlich unqualifizierter Jobs gibt es in ausreichender Zahl schlicht nicht mehr. Die mag es für saisonale Nischentätigkeiten wie Spargelernten geben, aber nicht, um eine zweistellige Millionenzahl zu beschäftigen. Und ein Großteil der mit diesem Argument Hereingewinkten dürfte es vorziehen, für Verhältnisse wie in manchen Metropolen jenseits des Atlantiks zu sorgen, wo die verfügbaren Polizei- und Justizkapazitäten dafür sorgen, daß alles unter einer Schadensgrenze von 1000 USD nicht mehr sanktioniert wird. Mit entsprechenden Sekundärfolgen beim Geschäftsklima.
"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire
Zitat von hubersn im Beitrag #641 Das wird nach meiner Einschätzung aber ein sehr sehr langsamer Prozess sein. Man schaue sich nur mal an wie lange die DDR überlebt hat, und das wäre ja noch locker 100 Jahre weiter gegangen auf stetig sinkendem Niveau
Da halte ich dagegen. Wir haben uns nämlich ein System gezimmert, das zwingend darauf beruht, daß von oben immer wieder Geld nachgeschüttet werden kann. Und wenn der Zufluß versiegt, ergibt das unschöne Kaskadeneffekte.
Da stimme ich prinzipiell zu. Aber meine Argumentation ist: es wird Gegenbewegungen geben, um diese Kaskadeneffekte deutlich abzumildern. Kann man jetzt im Kleinen schon beobachten: LNG, Kohle, ggf. sogar KKWs. Die berühmte normative Macht des Faktischen ist auf Dauer nicht aufzuhalten. Um das DDR-Beispiel am Leben zu halten: wie zur Frühzeit Honeckers.
Zitat Wir fangen gerade an, das in Frage Energie + Gas zu sehen.
Das ist ein sehr spezifisch deutsches Problem, und es lässt sich recht einfach lösen. Ich würde z.B. darauf wetten, dass innerhalb der nächsten 20 Jahre nochmal eine lange Phase niedriger Energiepreise kommt. Abkühlung Weltwirtschaft, v.a. China, verstärkte Nutzung von Kernenergie, und tatsächlich werden die Erneuerbaren ja auch immer preiswerter, das wird dämpfende Wirkung auf die Endverbraucherpreise haben. Nicht notwendigerweise in D (weil schlechte Voraussetzungen für PV und Wind und Biomasse), aber anderswo gibt es dieses Potenzial.
Zitat Der größte Teil der Bevölkerung ist nicht mehr in Produktionsvorgänge eingebunden,
War er das je in den Jahren seit vielleicht 1970? Dienstleistung ist Trumpf. Und da liegen die Arbeitsplätze auf der Straße, es erfordert nur eine Neujustierung im Bereich des Sozialsystems (Beiträge runter, Druck rauf) und natürlich klassische Deregulierung, um hier ein Potenzial von Millionen von Arbeitsplätzen zu schaffen. Haben andere Länder schon vorgemacht.
Zitat und wenn kein Strom mehr aus der Leitung kommt und kein Saft aus der Tanksäule, steht das sowieso.
Sehe ich nicht kommen und würde hohe Summe dagegen wetten, dass das in den nächsten 30 Jahren passiert.
Zitat Und die Millionen vermeintlich unqualifizierter Jobs gibt es in ausreichender Zahl schlicht nicht mehr. Die mag es für saisonale Nischentätigkeiten wie Spargelernten geben, aber nicht, um eine zweistellige Millionenzahl zu beschäftigen.
Allein um das Handwerkerdefizit in Deutschland aufzuarbeiten, kann man dauerhaft 10 Mio Vollzeitarbeitskräfte beschäftigen. Es ist NICHT normal, dass Menschen in den Baumarkt gehen und Handwerkerarbeiten am Wochenende selbst machen. Es ist NICHT normal, dass der Heizungsbauer erst Ende nächsten Jahres die neue Anlage installieren kann. Wir reden hier nicht von mit durch intellektuelle Höchstleister mit jahrelanger Spezialausbildung zu bestückende Arbeitsplätze.
Zitat Und ein Großteil der mit diesem Argument Hereingewinkten dürfte es vorziehen, für Verhältnisse wie in manchen Metropolen jenseits des Atlantiks zu sorgen, wo die verfügbaren Polizei- und Justizkapazitäten dafür sorgen, daß alles unter einer Schadensgrenze von 1000 USD nicht mehr sanktioniert wird. Mit entsprechenden Sekundärfolgen beim Geschäftsklima.
Das ist einfach lösbar durch kräftiges Eindampfen der Sozialleistungen und Verzicht auf "Defund The Police". Zurück zu Fordern und Fördern mit klarem Schwerpunkt auf ersterem. Dazu ein bisserl Law & Order, man schaue sich die Erfolgsgeschichte New Yorks während eines bestimmten Zeitraums an. Gerade im Bereich Sicherheit und Justiz ließen sich Millionen Verwaltungsangestellte gewinnbringend einsetzen, wenn sie nicht mehr damit beschäftigt sind, dem produktiven Teil der Bevölkerung das Leben schwer zu machen. Man denke an Law & Order mit starker Verfahrensverkürzung und saftigen Geldstrafen, das ist wie eine Gelddruckmaschine.
Nicht, dass ich jetzt große Hoffnung hätte, dass dieser Umschwung beizeiten und kräftig einsetzt. Aber er wird kommen. In diesen Zeiten, in denen Habeck beim Scheich um LNG bettelt, ist alles möglich.
Zitat von Krischan im Beitrag #637Bei Rom (Ich gehe davon aus, dass Sie Westrom meinen) gibt es ja einen fast nahtlosen Übergang ins oströmische Reich mit einer bewundernswert langen Kontinuität.
Grade die Geschichte von Byzanz ist doch ein ideales Beispiel dafür, dass sich das "dekadente" Rom noch Jahrhunderte gehalten hat. Und zwischen "Aufkommen der Dekadenz" (wobei das je nach Autor ja verschieden ist) bis zum Niedergang hat es Jahrhunderte gedauert, je nach Zählung.
Zitat von KrischanMan kann mit Fug und Recht das kuk-Reich als die Blaupause für die Europäische Union sehen. Es ist auch sehr erstaunlich, wie lange es der Monarchie doch gelungen ist, die separatistischen Fliehkräfte der Italiener, Kroaten, Polen, Tschechen, Slowenen, Ungarn auf unterschiedliche Art und Weise im Zaum zu halten.
Viele Schriftsteller aus der Donau-Monarchie vermitteln uns im Nachgang den Eindruck, dass der Untergang quasi kommen musste. Wegen der Nationalisten, den veralteten Staatsgefüge, der mangelnden Industrialisierung und dergleichen mehr. Das wird wohl mit zum Lebensgefühlt gehört geworden sein, einen untergegangenen Reich angehört zu haben und ich kann nachvollziehen, dass sich ein "Marsianer" (wie gewisse ungarische Migranten sich spaßeshalber nannten) oder eben "Kukaier" sich so vorkamen als hätten sie zwei oder drei Weltordnungen erlebt.
Abgesehen vom literarischen Reiz dessen und der historischen Entwicklung, die dem sicherlich recht gab, scheint es mir, dass aus unserer heutigen Sicht Österreich-Ungarn erstaunlich stabil war.
Zitat von Llarian im Beitrag #638Eine "gestärkte Union" wird es allenfalls als neue und blutige Diktatur geben, ob man da noch von der Union sprechen kann, weiß ich nicht, es wird aber nicht mehr viel mit dem dekdadenten Zustand zu tun haben, den wir in den letzten Jahren erlebt haben und derzeit erleben.
Ob sich diese Worte so von denen der Schriftsteller der Donau-Monarchie unterscheiden? Oder von Autoren des 19. Jahrhunderts, die für das 20. Jahrhundert schon Kriege und Revolutionen heraufdämmern sahen?
Wenn ich mir die Weltgeschichte so ansehe, insbesondere die Wirtschaftsgeschichte am Beispiel Japan usw., dann könnte ich mir vorstellen, dass die EU unter geeigneten Rahmenbedingungen noch eine Zukunft hat. Vielleicht wird sie kleiner sein, vielleicht weniger zentralistisch, vielleicht sogar noch mehr dirigistisch...
Verstehen Sie mich nicht falsch, auch auf mich macht die EU keinen guten Eindruck. Zuviele Verbote, Regulierungen, schlechte Demographie und dergleichen. Doch das alles (mit Ausnahme der Demographie, natürlich, aber das ist ein Kapitel für sich) ließe sich ändern.
Wir werden in den nächsten Jahren so oder so erleben, wie reformierbar das System ist.
Zitat von Llarian[...]in Berlin und Brüssel zum Teufel jagt und sich wieder besinnen würde, sind die meisten dieser Probleme in wenigen Jahren lösbar.
Bei der Infrastruktur habe ich in den letzten Jahren einige Dinge erfahren, die mich in dieser Hinsicht aufgeklärt haben.
Was denken Sie, Llarian, wie die Infrastruktur selbst in Kalifornien aussieht? Und da sitzt gefühlt 99% aller IT-Firmen! Oder Japan. Zweitgrößte Volkswirtschaft und einer der größten Abnehmer fürs gute alte Fax.
Zudem es inzwischen von Seite der Wirtschaftswissenschaftler ganz unterschiedliche Ansichten bezüglich Digitalisierung gibt. Die Politiker haben nur den entscheidenden Schuß noch nicht gehört.
Der Bereich der derzeitigen IT ist für Europäer zunächst einmal verloren. Genauso wie Deutschland (und ein paar andere) führend in Sachen Verbrennungsmotor ist und dort fast uneinholbar dominiert. Aber in Sachen Elektroautos werden die Karten noch mal neu gemischt und die bisherigen Riesen müssen neue Tricks lernen. Nicht, dass die Sache aussichtslos wäre, wie von einigen Kommentatoren behauptet. IBM ist heute weltweit führend in Sachen Supercomputer und Cloud. Wie oft wurde IBM noch mal totgesagt, von Apple, Microsoft und Google als überholt dargestellt. Jetzt sieht es so aus als wäre IBM in Sachen KI und Quantencomputer eine ernsthafte Konkurrenz!
Es hängt aus meiner Sicht davon ab, ob die Europäer flexibel genug sein werden -- um in Jargon zu sprechen -- , den nächsten Kondratjew-Zyklus korrekt vorherzusehen und mitzuspielen. Paradoxerweise könnte das genau die Art von Biotechnologie sein, die wir noch nicht verboten haben.
Zitat von LlarianDas geht alles und es ginge sogar ziemlich gut, denn die Technik ist heute deutlich weiter als vor 80 Jahren, wo man das Spiel schon einmal spielen musste.
Es ist sogar das Gegenteil der Fall: Der Wiederaufbau oder die Neuerung wird auf Basis der neusten Technologie, neusten Verfahrensweise, neusten "Philosophie" geschehen. Es gibt durchaus Wirtschaftsexperte, welche behaupten, dass das beim Wirtschaftswunder Deutschlands und Japans nach dem 2. Weltkrieg eine Rolle gespielt hat.
Die Amerikaner und Chinesen sind in ihren Denken auf die gegenwärtigen Probleme gerichtet. Sie haben in Fabriken, Computercluster usw. der derzeitigen Generation investiert. Es könnte für Europa ein gewaltiger Vorteil sein, sofort mit der nächsten Generation reingehen zu können.
Zitat von LlarianDie nicht in der Lage sind einen Nagel gerade in die Wand zu hämmern, aber davon träumen "Influencer" oder "Podcaster" zu werden.
Ach bitte...
Wie viele junge Leute in den 1980er Jahren haben davon geträumt, mit ihrer Garagenband mal ganz groß durchzustarten und berühmt zu werden? Wie viele kleine Schreiberlinge hatten schon zur Zeiten von Karl Kraus höhere, schriftstellerischen Ambitionen?
Abgesehen davon, die Schwellen sind so niedrig, dass jeder mal den Versuch unternehmen, scheitern und von vorne anfangen kann.
Überspitzt formuliert: Mir wäre es suspekter, wenn plötzlich Leute zwischen 15 und 25 den Wunsch hätten, Anstreicher zu werden statt Gemälde zu malen.
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #639Ab den 1970er Jahren gab es einen Modetrend in der Geschichtswissenschaft (ein Oxymoron, ich weiß...), den "Untergang Roms" wegzueskamotieren.
Können Sie da, werter Herr @Ulrich Elkmann , da eine Empfehlung machen oder sowas?
Zitat von Ulrich Elkmannund siehe da: die Stubengelehrten hatten absolut recht. Auch nördlich der Mittelgebirge sinkt der jährliche Eintrag von Kulturpflanzenpollen gegenüber Birke, Esche & Eiche auf weniger als 1% zwischen der Mitte der 5. und dem Ende des 8. Jahrhunderts.
Und in diesen Zeitraum ist in Ostrom noch wahnsinnig viel passiert.
Zitat von hubersn im Beitrag #641Denn es gibt unglaublich viele Tätigkeiten, die wirklich überhaupt keine signifikante Ausbildung erfordern, und trotzdem "produktiv" sind, mindestens in dem Sinne als sie den tatsächlich produktiven Teil der Bevölkerung nicht von den wichtigen Arbeiten abhalten, sondern von der Routinearbeit entlasten
Es gibt unglaublich viele Tätigkeiten, welchen... 1. akut von Automatisierung bedroht sind 2. Schlecht bezahlt werden für einen Knochenjob 3. Geringes gesellschaftliches Ansehen genießen (ist grade für junge Leute wichtig!) 4. zudem noch himmelschreiend stupide sind, wenn man sie den ganzen Tag ausführt.
Ich kann absolut nachvollziehen, wieso Jugendliche keinen Bock auf sowas haben. Eher im Gegenteil, ich würde mir sorgen machen, wenn das die beliebtesten Berufe werden. Und zwar ernsthafte Sorgen! Meine Person hat auch starke Zweifel, ob das in den 1950er, 1970er oder sonst irgendeiner Zeit ernsthaft anders war. Die jungen Leute damals haben nur (a) keine Chance gesehen irgendwas anderes zu kriegen -- wozu das sanft dirigistische Schulsystem auch beigetragen hat, der Volksschüler musste "was handfestes" machen -- und (b) hatten sie bei einer Bevölkerungspyramide wie im Kaiserreich keine andere Wahl als das zu nehmen, was man kriegt. Es gehört zur Natur des Menschen, dass man sich das hinterher schönredet und nicht herauskrakelt, dass diese Art von Tätigkeit bestenfalls zweite Wahl ist. Das ist heute eben anders und da kommen unattraktive Berufe schon mal gehörig in die Klemme.
Zitat von hubersn im Beitrag #641Ich halte es für unwahrscheinlich, dass wir entweder eine radikale Wende oder einen schnellen Niedergang erleben.
Wie geschrieben: Klassische Beispiele für dekadente Staatswesen sind auch jahrhundertelang stabil gewesen, bevor sie untergingen.
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #643Wir haben uns nämlich ein System gezimmert, das zwingend darauf beruht, daß von oben immer wieder Geld nachgeschüttet werden kann.
Jetzt mal Karten auf den Tisch: Der größte Haushaltsposten im Bundeshauhalt sind meines Wissens staatliche Zuschüsse für die Rentenkasse. Die Baby Boomer gehen in Rente und auch mit besser werden Gesundheitssystem wird sich das nicht verhindern lassen. Schon gar nicht bei Knochenjobs.
Hier sehe wir die Kausalfolgen des demographischen Wandels. Das mag auch was mit Dekadenz zu tun gehabt haben, aber die Implikation Ihres Textes, dass das irgendwas mit Faulheit usw. zu tun hat, ist doch nun wirklich nicht haltbar.
... und es gehört auch hier zur Natur des Menschen, dass man dies nachträglich schönredet und sich nicht noch einredet, wie schrecklich doch alles sei. Letzteres bringt nichts. Ärmel hoch!
Zitat von Ulrich ElkmannDer größte Teil der Bevölkerung ist nicht mehr in Produktionsvorgänge eingebunden, und wenn kein Strom mehr aus der Leitung kommt und kein Saft aus der Tanksäule, steht das sowieso. Und die Millionen vermeintlich unqualifizierter Jobs gibt es in ausreichender Zahl schlicht nicht mehr.
1. Deutschland gehört noch zu den Top industrialisierten Staaten. Jedenfalls vergleichen mit "Dienstleistungsgesellschaften" wie dem UK, France und sogar den USA! Mir erschließt sich die gesamte Richtung der Kritik nicht. 2. Wollen Sie ernsthaft eine Gesellschaft, die überwiegend aus Leuten in unqualifizierten Jobs besteht? Mal unter uns, das können Sie vergessen. Da ist Deutschland 10 mal aus der Konkurrenz, bevor wir überhaupt angefangen haben! Glauben Sie ernsthaft, wir können in Sachen (pardon) "billiger Arbeitskräfte" bei unseren Lebensstandard, unseren Lebenshaltungskosten, unseren Sozialstaatskosten (Rentenansprüche müssen gegenfinanziert werden) usw. auf dem Weltmarkt mithalten?
Zitat von Ulrich ElkmannUnd ein Großteil der mit diesem Argument Hereingewinkten dürfte es vorziehen, für Verhältnisse wie in manchen Metropolen jenseits des Atlantiks zu sorgen, wo die verfügbaren Polizei- und Justizkapazitäten dafür sorgen, daß alles unter einer Schadensgrenze von 1000 USD nicht mehr sanktioniert wird.
Stichwort: Anreizstruktur, Zeitpräferenz usw.
Mit Sicherheit wird eine Verarmung den Staat nicht sicherer machen.
Zitat von hubersn im Beitrag #644Haben andere Länder schon vorgemacht.
Und welche Folge hatte das in der Regel für die Länder?
Egal ob ich mir da Japan ansehe (Hikikomori), die USA (Generation Praktikum) oder sonstwo.
Natürlich kann man sehr viele Jobs schaffen, wie z. B. irgendwo Werbeplakate aufhängen oder sowas. Aber damit startet man nur eine Spirale, die drastisch abwärts geht. Wir haben jetzt schon eine Generation, die große Probleme hat, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen. Glauben Sie, dass die jungen Leute, die 2010 bis 2022 heute Kinder bekommen haben, das jetzt überraschend nachholen werden?
Eine der Vorteile Deutschlands ist es, dass wir immer noch auf Produktion setzen und nicht auf den Trend aufgesprungen sind. Hidden champions, Ingenieursarbeit usw. In Richtung Bastler und Visionäre müssten wir wieder gehen.
In Sachen "billige Arbeitskräfte" oder Rohstoffe wird Deutschland niemals konkurrenzfähig sein. Wie das Beispiel Japan zum Beispiel zeigt, ist das aber auch nicht zwingend erforderlich.
Zitat von Johanes im Beitrag #645 Grade die Geschichte von Byzanz ist doch ein ideales Beispiel dafür, dass sich das "dekadente" Rom noch Jahrhunderte gehalten hat. Und zwischen "Aufkommen der Dekadenz" (wobei das je nach Autor ja verschieden ist) bis zum Niedergang hat es Jahrhunderte gedauert, je nach Zählung.
Byzanz war - im Gegensatz zum Westteil des Reichs - ein funktionierendes Staatsgebilde. Weder sind vor dem Aufmarsch der Osmanen von Osten her (bzw dem 4. Kreuzzug von Westen her) die Grenzen gestürmt worden, sind keine Besitzungen sukzessive verloren gegangen und anders als mit Libyen ist dort Ägypten nicht Ende des 4. Jhdts als Kornkammer verloren gegangen. Stattdessen hat es sogar unter Belisarius den Versuch, den Westen wiederzuerobern gegeben. Dort ist alles intakt geblieben, was im Westen verloren gegangen ist, angefangen mit einer effizienten Verwaltung und Kommunikationsstruktur über die gesamte Ausdehnung des Reichs.
Nun macht sich ja die "Dekadenz" in ihrer übertriebenen, zerrbildhaften Form ihrerseits schon an den zeitgenösischen Karikaturen fest. Montesquieu zähle ich hier nicht mit, weil er tiefer sieht und an den Niedergang des Imperiums in der Aushöhlung der tradierten Institutionen festmacht, die dann ihrgendwann zu deren Versagen und ihrer Aufgabe führten. Aber das klassische Zerrbild ist das Bild der reichen Römer, die sich im Triclinium vom Sklaven mit Federn im Gaumen kitzeln ließen, wenn sie sich überfressen hatten, während schon die Barbaren mordend und plündernd durch die Straßen zogen. Dieses Szenario hat es so nie gegeben. Aber bei UNS ist das Wirklichkeit. Nicht flächendeckend - aber wir können davon im Wochentakt lesen. Und gleichzeitig beflaggen wir alles mit Regenbogenbannern und nehmen Kritikern eines solchen Treibens den Beruf. Die gesamte öffentliche Diskussion dreht sich, scheint es, nur noch um einen Wettbewerb, das noch einen Tacken schriller zu gestalten.
Wir haben jetzt die Situation, wo es wirklich ernst wird: wir sehen, daß unsere Armee eine Karikatur ist, und daß so etwas, mit tatsächlicher Einsatzbereitschft, gebraucht wird. Man sollte meinen, das sei genug für ein Wecksignal. Stattdessen geht unsere Verteidigungs-Strickliesel vor 2 Tagen hin & spreizt sich damit, endlich in einer Kaserne ein Regenbogenbanner gehißt zu haben. Atomenergie: das gleiche. Man sollte meinen, daß unsere Situation so ist, daß selbst grüne Minister sagen: gut - wir machen damit vorerst weiter; sie könnten das ja vorerst mit dem Zusatz "1-2 Jahre" bemänteln. Stattdessen sehen wir, daß das Prinzip des vorsätzlichen Wahnsinns einfach stur weitergefahren wird. Das läßt nur den Schluß zu, daß unsere Eliten nicht mehr wirklichkeitstauglich sind, nicht mehr aus dieser Rolle hinaus KÖNNEN. Das trifft sicher nicht für alle zu, aber für genug, um in dem Netz, das die Behörden & staatlichen Stellen nunmal bilden, sich nichts mehr bewegen kann. Finale Lähmung.
Man muss sich das Ausmaß des Irrsinns nur mal kräftig vor Augen führen: wir haben mal 40% unseres Primärenergiedarfs aus Atomkraft gedeckelt. Pas de probleme. Dann scheppert es, und weil ein Tsunami in der Nordsee München verwüsten könnte, treten wir, mit Vorsatz und 11 Jahre (!) lang unwidersprochen, diese Technologie mit Anlauf in die Tonne. Das ist rational nicht mehr zu erklären, sondern nur noch mit der kollektiven Todessehnsucht, die Freud im "Unbehagen an der Kultur" 1930 als Triebfeder der "Erziehung vor Verdun" ausgemacht hat.
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Zitat von hubersn im Beitrag #642Und warum die "Theorie des demokratischen Friedens" zwingend auf Fischers These zurückgehen soll, ist auch eine unbelegte, wenn nicht sogar absurde Behauptung.
Dann ist es ja ein Glück, dass niemand etwas derartiges behauptet. Es handelt sich vielmehr um zwei halbwegs ähnliche Sichtweisen, verschiedener Provenienz. Fischer ist vor allem in Deutschland politisch wirkmächtig, während der angelsächsische Sprachraum die "Theorie des demokratischen Friedens" beisteuert, die man als Neohegelianischen Geschichtsoptimismus beschreiben kann (z.B. Francis Fukuyama, mit Vorläufern).
Im folgenden Absatz (sorry, hab keine Lust alles abzuschreiben) legt Münkler dar, dass die "Theorie des demokratischen Friedens" im Grunde schon am ersten Weltkrieg scheitert, zum einen, weil weder das deutsche Kaiserreich noch die k. u.k. Monarchie ausgesprochen undemokratische Staatsgebilde waren, zum anderen weil es auf beiden Seiten, insbesondere im Deutschen Reich und Frankreich durchaus eine echte Kriegsbegeiterung gab. Jedenfalls wäre es kühn zu behaupten, dem großen Krieg hätte es an demokratischer Legitimation bei den Kriegsparteien gemangelt. (Ich würde ja auch anführen, dass Frankreich & das Empire keinerlei Skrupel hatten, sich mit der autokratischsten & undemokratischsten Großmacht Europas zu verbünden, was zwar keine direkte Widerlegung ist, aber durchaus ein "Geschmäckle" hat)
Was die Jugoslawischen Zerfallskriege angeht, sind sie für die politische Theoriebildung vor allem deswegen enttäuschend, weil sie eben zu einem Zeitpunkt auftraten, als Jugoslawien einen Demokratisierungs- und Liberalisierungsschub erlebte. Was immer man von Milosevic hält, an demokratischer Legitimation in Serbien hat es jedenfalls nicht gefehlt.
Noch größer ist die Enttäuschung wohl angesichts des "arabischen Frühlings," den aber Münkler nicht mehr berücksichtigen konnte.
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #647ber bei UNS ist das Wirklichkeit. Nicht flächendeckend - aber wir können davon im Wochentakt lesen.
Ich denke, man sollte diese Meldungen nicht überinterpretieren. Ich gehe zwar auch davon aus, dass es eine relativ Zunahme gegeben hat usw.
In Übrigen, sollte es so sein, dass wir historisch einmalig dekadent sind, kann man natürlich erst recht nicht vorhersagen, wohin die Entwicklung führen wird. Und in der Tat gibt es dafür ja einige Argumente. Manche Dinge waren für die antiken Römer usw. schlicht nicht möglich.
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #647Die gesamte öffentliche Diskussion dreht sich, scheint es, nur noch um einen Wettbewerb, das noch einen Tacken schriller zu gestalten.
War denn die öffentliche Debatte des Jahres 1990 oder so wesentlich anders?
Zitat von Saki im Beitrag #648Fischer ist vor allem in Deutschland politisch wirkmächtig, während der angelsächsische Sprachraum die "Theorie des demokratischen Friedens" beisteuert, die man als Neohegelianischen Geschichtsoptimismus beschreiben kann (z.B. Francis Fukuyama, mit Vorläufern).
1. Von meiner Seite aus explizit keine Aussage zu Fischer. Sehen Sie mich da zunächst als vollkommen neutral. 2. Über die Ideengeschichte des demokratischen Friedens weiß ich zu wenig, aber meines Wissens hat schon der alte Kant im "Zum Ewigen Frieden" (und das datiert Hegel vor) über die republikanische Staatsform als Friedensförderlich geschrieben. 3. Die These vom demokratischen Frieden wurde meines Wissens nicht durch geschichtsphilosophische "Spekulation" begründet, sondern durch Statistik. Die mögen methodisch falsch sein. Es ist aber etwas anderes.
Zitat von SakiNoch größer ist die Enttäuschung wohl angesichts des "arabischen Frühlings," den aber Münkler nicht mehr berücksichtigen konnte.
Ein möglicher (Teil-)Grund für die Abkehr von der Vernunft könnte in der Abschaffung der (grundfinanzierten) Forschung im Laufe 90iger Jahre in der Deutschland sein. Seitdem müssen Professoren politischen Vorgaben für Fördergelder hinterherrennen und die notwendige Qualifikation für eine Professur hat (stark vereinfacht gesagt) sich auf möglichst wendig und fördergeldkompatibel verändert. Ob eine Forschung richtig ist, entscheidet heute salopp gesagt die EU-Komission oder ein Ministerium (ja, Gutachter im Auswahlprozess sind gleichgesinnte Forscher).
Worauf mit dem etwas vereinfacht ausgedrücktem obigem Text hinaus will ist, dass insbesondere die MINT-Fächer in eine für diese Fächer unübliche politische-ideologische Abhängigkeit hinein geraten sind, die es schwer macht, gegen gewollten BS Widerspruch zu erheben. Darüber hinaus ist ja gerade das Funktionierenmachen von BS eine große wissenschaftliche Herausforderung und damit sehr einträglich für Vorschläge und dann finanzierten Stellen. Es gibt hier also gar keinen Grund für realistische Bescheidenheit und Beibehalten von funktionierenden bestehenden Lösungen. Mit einem Windrad, das selten Strom liefert, eine große Volkswirtschaft und Industrie produktiv zu betreiben hat so viele offene Fragen in vielfältigen technischen und organisatorischen Disziplinen, dass das eine Goldgrube für Forschungstätigkeit ist. Da kann man Billionen € rein versenken, Millionen Paper schreiben und hat noch offene Fragen und im Gegensatz zur Kernfusion stets etwas Fortschritt.
Und das ist eben eine Unterordnung von Technik und Naturwissenschaft unter Geisteswissenschaft und Politik, oder wie aktuell aus München berichtet, wo die Leitung der IT-Infrastruktur jetzt eine Gender-Studies-Frage ist.
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